Am 12.09.1996 hatten Redakteure der Schülerzeitungen „Speaker – Spieker" der Berufsbildenden Schulen Aurich, Jens Schoon und Marlies Ulferts, sowie der „Ulricianum-Times“ des Gymnasiums Ulricianum, Heike Gleibs und Peter Pietzuch, die Gelegenheit, in Frankfurt ein Interview mit dem Präsidenten der Deutschen Bundesbank zu führen. Sie wurden von den Lehrkräften Ulrich Kolbe (BBS II) und Reinhard Völckner (Ulricianum) begleitet.
Herr Dr. Tietmeyer, seit 6 Jahren sind Sie im Zentralbankrat und wurden vor knapp 3 Jahren zum Präsidenten ernannt. Sie bekleiden auch andere internationale Ämter. Haben Sie bei so einem engen Terminkalender noch Platz für andere Dinge?
Wenig, zu wenig. Aber wenn ich zu Hause bin, wandere ich gerne, habe auch da und dort mal Freunde zu Besuch. Es ist tatsächlich zu wenig Zeit. Deswegen halte ich mich auch bei offiziellen Verpflichtungen gesellschaftlicher Art zurück.
In der Sparkassenzeitung wurden Sie am 16. August '96 als „Mr. D-Mark" bezeichnet. Diese Betitelung haben Sie sicher schon öfter gehört. Charakterisiert Sie das eigentlich richtig?
Mich persönlich charakterisiert das nicht, aber es ist sicher richtig, daß der Bundesbankpräsident eine besondere Verantwortung trägt. Zum einen muß er als Vorsitzender des Zentralbankrates dafür sorgen, daß es möglichst zu richtigen Entscheidungen kommt, und zum anderen muß er das auch in der Öffentlichkeit sagen, was notwendig ist, um die Währungsstabilität zu wahren. Insofern sehe ich mich lieber als Anwalt der D-Mark.
Als Präsident haben Sie alles erreicht, was man beruflich erreichen kann, denke ich. Als kleine Auszubildende schaue ich natürlich erst mal hoch, und Sie schauen von oben runter.
Vielleicht sind Sie die nächste Bundesbankpräsidentin oder die übernächste – irgendwann.
Was haben Sie jetzt noch für ein Ziel?
Ich habe das Ziel, die D-Mark, solange es sie gibt, so stabil wie möglich zu halten und damit die währungsseitigen Grundlagen zu erhalten für die wirtschaftliche Prosperität unseres Landes. Das ist die Grundlage sozialer Gerechtigkeit und natürlich für hinreichende Beschäftigung. Das kann die Geldpolitik nicht alleine leisten, aber sie kann und muß dazu beitragen, daß die Geldwertstabilität erhalten bleibt. Dies ist meine Zielsetzung. Wenn mir dies gelingt, dann ist das das Wichtigste. Und dann das Zweite: Da die Politik sich entschieden hat, in eine europäische Währungsunion hineinzugehen, müssen die Voraussetzungen dafür stimmen. Dafür arbeiten wir gegenwärtig ziemlich hart und ziemlich viel.
Ich habe gehört, daß Sie der christlichen Soziallehre zugeneigt sind. Momentan ist das ja auch ein ganz heißes Thema mit dem Sozialabbau und so weiter. Denken Sie, daß unsere Wirtschaft unter dem Gesichtspunkt der christlichen Soziallehre noch weiter laufen kann oder daß wir zu alten kapitalistischen Wertvorstellungen zurückkehren müssen?
Wenn es dafür einen so glatten Gegensatz gäbe, wüßte ich, wofür ich mich entscheiden würde. Aber ich glaube, die soziale Marktwirtschaft ist eine Ordnung, die beides herstellen kann, nämlich ökonomische Wohlfahrt und soziale Gerechtigkeit – soweit es überhaupt nur möglich ist. Das ist kein Widerspruch, wenn es richtig aufgefaßt wird. Was mir gegenwärtig Sorge macht, ist, daß diese beiden Dinge als Gegensätze betrachtet werden und daß man nicht mehr erkennt, was eigentlich das Anliegen der sozialen Marktwirtschaft ist. Ich komme aus der katholischen Soziallehre. Mein akademischer Lehrer war Alfred Müller-Armack, der zusammen mit Erhardt das Ordnungskonzept der sozialen Marktwirtschaft entwickelt hat. Eine richtig gestaltete Marktwirtschaft, vom Wettbewerb getrieben und mit einer funktionsfähigen Ordnung, produziert Wohlfahrt und auch ein hohes Maß an sozialer Gerechtigkeit. Aber soziale Gerechtigkeit darf man nicht so verstehen, wie viele das verstehen, daß sozusagen jeder das Gleiche hat. Nein, das Element der Leistungsgerechtigkeit ist ein entscheidendes Element der sozialen Gerechtigkeit. Leider wird die soziale Gerechtigkeit von vielen nur als ausgleichende Gerechtigkeit verstanden. Die Gerechtigkeit ist eigentlich eine Frage der Leistungsgerechtigkeit. Eine Leistung muß erbracht werden, und die muß dann auch entsprechend honoriert werden. Warum? Weil der Mensch nur so von seiner Natur angelegt ist, daß er im Grunde diesen Stimulus braucht. Zur Zeit ist unser Problem in Deutschland, daß wir ein System entwickelt haben, in dem es zu viele Besitzstände gibt, die sich nicht immer auf Leistung stützen. Man denkt dort nur an austeilende Gerechtigkeit, aber man denkt nicht mehr an die Grundlage, damit es überhaupt noch funktioniert. Und das ist das eigentliche Element, um das es geht. Dies führt zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Denn diese Ordnung basiert auf Leistung, auf Leistungsgerechtigkeit, und produziert die Güter und Dienstleistungen, die umverteilt werden müssen. Aber bitte nur für die, die nicht leisten können, aber bitte nicht für die, die nicht leisten wollen. Nicht alles, was das Etikett „sozial" trägt, ist auch sozial. Man muß sehr wohl fragen: Was ist eigentlich sozial? Man kann nichts verteilen, wenn man es nicht vorher produziert hat. Wenn sie alles immer nur ständig umverteilen, haben sie am Schluß nicht nur nichts mehr, sondern auch Schulden, und dann erwürgen sie den Prozeß selbst.
Wie könnte man aus dieser Misere herauskommen; wie sehen Sie die Zukunft Deutschlands? Denken Sie, daß alles radikal verändert werden muß, damit wir wieder eine Zukunft haben?
Also, daß Veränderungen notwendig sind, ist überhaupt keine Frage. Aber die Zielrichtung muß eindeutig sein. Daß wir unsere Sozialleistung erstens darauf konzentrieren, wo wirklich die Bedürftigkeit auf Dauer ist, und nicht denjenigen, die leisten können, aber nicht wollen, oder die leisten können, aber keinen „incentive" dafür haben, diesen einen „disincentive“, einen negativen „incentive“, geben. Das ist das Entscheidende: daß wir also durchforsten, was ist in unserem Sozialsystem inzwischen so weit entwickelt worden, daß es in Wahrheit Leistung, eigene Anstrengung eher behindert als stimuliert. Zweitens: Wir müssen einfach sehen, daß diejenigen, die leisten und Leistungen erbringen, von den Abgaben an den Sozialstaat nicht überlastet werden. Sie wissen, wie sich die Abgabenbelastung in Deutschland entwickelt. Unsere Bevölkerung wird älter. Die Umverteilung von denjenigen, die arbeiten, auf diejenigen, die älter werden, wird immer größer, wenn wir das System nicht anpassen. Die gesundheitspflegerischen Leistungen nehmen immer mehr zu. Dies ist durchaus richtig. Die entscheidende Frage ist nur: Wie wird es finanziert? Und da brauchen wir wieder mehr Eigenverantwortung, Selbstverantwortung und Eigenleistung.
Herr Dr. Tietmeyer, die Deutsche Bundesbank wurde als Institution gegründet, um die Währung stabil zu halten. Sie ist deshalb autonom und zum Beispiel nicht an Weisungen gebunden. Trotzdem gibt es natürlich eine weitreichende Verzahnung mit der Politik. Deshalb meine Frage: Inwieweit entspricht die auf dem Papier festgelegte Unabhängigkeit der Bundesbank von der Bundesregierung der Realität?
Unabhängigkeit kann nicht bedeuten, daß wir nicht den Gesamtzusammenhang sehen. Aber Unabhängigkeit bedeutet, daß wir unsere Entscheidungen in eigener Verantwortung und eigener Abwägung treffen, und das ist in der Bundesbank in einem Maße gewährleistet, wie das eigentlich in kaum einer zweiten Zentralbank der Welt gewährleistet ist. Dabei halte ich es für wichtig, daß wir ein Kollegium haben, welches Entscheidungen trifft. Es ist nicht die Entscheidung eines einzelnen, sondern es ist, wenn man so will, ein kleines Parlament. Ein Parlament von Leuten, die auf längere Sicht ernannt sind, die nicht auf einen Wahltermin schauen müssen, die nicht auf die tagespolitische Implikation schauen müssen, sondern die die Chance und die Verpflichtung haben, das alles über einen längeren Zeitraum zu sehen.
Für uns ist der Maßstab: Wie läuft das eigentlich längerfristig? Wie sind die längerfristigen Wirkungen? Das ist das Eine, das Zweite ist: Wir haben eine Beratungsaufgabe für die Politik – eigens im Gesetz festgelegt –, und diese Beratungsaufgabe schließt auch ein, daß wir der Politik unsere Meinung im Dialog sagen. Das tun wir auch. Übrigens hat die Regierung ja auch das Recht, an unseren Sitzungen teilzunehmen und dort auch ihre Meinung zu sagen.
Daß unsere Politik kritisiert wird, das ist eine andere Sache. Aber ich spreche jetzt über die Unabhängigkeitsrolle. Hierzu kann ich erfreulicherweise doch einen weitgehenden Konsens in der deutschen politischen und öffentlichen Landschaft feststellen, daß es gut ist, eine unabhängige Notenbank zu haben. Und ich darf dazu sagen, weil ich ja gar nicht so lange da drin bin: Dies ist das Ergebnis eines langen Prozesses, den die erste, zweite, dritte Generation von Bundesbankern ausgemacht haben. Diese Reputation, diese Anerkennung an den Finanzmärkten und in der Welt, und zwar geht das nicht um persönliche Anerkennung, sondern es geht darum, ob man ernst genommen wird als handelnde Institution. Das ist eine erworbene Reputation, die von uns nach dem Muster „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen" verwaltet wird. Es geht um die Reputation der Institution, und ich glaube, wenn sie heute in der Welt herumfahren, finden sie kaum eine Notenbank, die auch ein ähnlich hohes Ausmaß an Anerkennung hat.
[Körber (Pressesprecher):] Vor einiger Zeit sagte Bundeskanzler Helmut Kohl vor einem großen internationalen Publikum: „Eine unabhängige Notenbank zu haben, ist für eine Regierung manchmal ganz schön unbequem, aber für mich als Bürger ist das beruhigend.“ Besser konnte man es eigentlich gar nicht zusammenfassen, und es tat gut, daß er dies in diesem Bewußtsein sagte.
Denken Sie, daß Sie sich manchmal in einem Interessenkonflikt zwischen Ihrem Amt als Bundesbankpräsident und Ihrer eigenen Parteizugehörigkeit befinden?
Eindeutig Nein. Ich bin zwar Mitglied einer Partei, aber meine Parteizugehörigkeit heißt ja immer nur, daß ich mich bemüht habe, meine Vorstellung – die ich für richtig halte – auch in die öffentliche Politik und in die Öffentlichkeit hineinzubringen. Wenn ich Unterschiede zu meiner Partei, zu den Vorstellungen anderer in meiner Partei erkenne, habe ich überhaupt kein Problem, dies auch deutlich zu sagen. Insofern habe ich da keinen Konflikt, weil ich mir schon ein hinreichendes Maß an eigener Urteilskraft zumesse. Und wenn es mal unterschiedliche Meinungen gibt, das stört mich überhaupt nicht. Ich kann die CDU genauso gut kritisieren wie die SPD oder wie Die Grünen.
Fühlen Sie sich zum Teil auch als Politiker?
Nein, ich fühle mich eher als civil servant – als der Diener des Gemeinwohls. Damit wollte ich nicht sagen, daß die Politiker das nicht sind, aber ich fühle mich nicht als politischer Gestalter im weiteren Sinne, sondern ich bin verantwortlich für einen Teilbereich, und dieser Teilbereich ist wichtig für die Wohlfahrt unseres Landes und für die Wohlfahrt unserer Gesellschaft auf Dauer. Insofern sehe ich mich als Anwalt des Gemeinwohls.
Herr Dr. Tietmeyer, wie wir bereits gehört haben, hat sich die Politik entschieden, 1999 in eine europäische Währungsunion zu gehen. Sehen Sie diesen Termin als gefährdet, wenn dann nicht alle Staaten die Aufnahmekriterien erfüllt haben werden?
Also, zunächst einmal sieht der Vertrag das Jahr 1999 vor, aber er sieht nicht vor, daß alle Länder a priori teilnehmen, sondern nur die Länder, die die Voraussetzungen dauerhaft erfüllen. Das ist kein Konflikt im Vertrag, sondern der Vertrag selbst hat diese Konstruktion vorgesehen. Den Termin würde ich nur als gefährdet ansehen, wenn zwei Länder nicht in der Lage wären, diese Voraussetzungen zu erfüllen, nämlich Frankreich und Deutschland. Sie sagen: „Aber warum denn?“ Ich sage es einmal ganz einfach: Die anderen Länder werden an einer Währungsunion ohne Deutschland nicht interessiert sein. Und umgekehrt, eine Währungsunion nur mit einigen kleineren Ländern ohne Frankreich wäre angesichts der Gesamtkonstruktion Europas wahrscheinlich eine Konfliktsituation. Deswegen sage ich, wenn eines dieser beiden großen Länder im Jahre 1999 nicht die Voraussetzungen erfüllen wird, dann wird es ein Problem für den Termin geben.
Im Augenblick stelle ich nur fest, daß alle Länder sich bemühen und im Augenblick noch nicht absehbar ist, wer nun die Voraussetzungen erfüllt. Im Frühjahr 1998 wird auf der Basis der Ergebnisse von 1997 die Prüfung stattfinden, und dann werden wir sehen. Nur, um das noch einmal zu sagen: Eine kleinere Währungsunion, bei der nicht alle 15 Länder dabei sind, halte ich für wahrscheinlich. Ich kann mir nicht vorstellen, daß alle Länder bis dahin die Voraussetzungen erfüllen.
Meine Aufgabe sehe ich darin, nicht nur die technischen, sondern auch die ökonomischen Vorbereitungen so weit wie möglich zu schaffen. Und ich habe ja auch im Urteil mitzuwirken, ob die Voraussetzungen gegeben sind. Insofern bin ich nicht bei der politischen Entscheidung dabei, wohl aber bei der Begutachtung vorher, bevor der Entscheidungsprozeß losgeht. Die Entscheidung wird dann von der Politik, dem Rat der Staatschefs, getroffen, und zwar mit Zweidrittelmehrheit.
Aber jetzt zu der Frage: Wann läuft das eigentlich ab? Wenn es 1999 zu der Währungsunion kommt – ich habe das Wenn nur an einer Stelle mit einem Fragezeichen versehen: Deutschland, Frankreich –, wenn es dazu kommt, dann läuft folgendes Szenarium ab: Am ersten Januar 1999 werden die Währungen der teilnehmenden Länder in ein absolut festes und nicht mehr verrückbares Verhältnis zueinander gerückt. Das kann dann hinterher nicht mehr verändert werden, es gibt auch keine Bandbreiten mehr. Jeder hat das Recht, dann die Währungen der Teilnehmer, und ich unterstelle jetzt, Frankreich und Deutschland sind dabei, also Franc in D-Mark zu tauschen, zum gleichen Kurs und auch zum gleichen Kurs wieder zurück, und zwar nicht nur im Augenblick, sondern auch auf Dauer. Die Teilnehmerwährungen werden miteinander fixiert, und zum gleichen Zeitpunkt geht die geldpolitische Verantwortung von den nationalen Zentralbanken, die teilnehmen, auf die Europäische Zentralbank über. Da sitzt dann der deutsche Bundesbankpräsident als eine Art Landeszentralbankpräsident in diesem Entscheidungsgremium. Er hat eine Stimme. Dann läuft ein Drei-Jahres-Zeitraum, in dem die Währungen noch parallel umlaufen, aber absolut gefixt. Nach spätestens drei Jahren, in diesem Falle zum 1.1.2002, findet dann der Umtausch dieser nationalen Währungen in den Euro statt, im Sinne der Banknoten und der Münzen. Im rein finanziellen Sektor – also im Geldmarkt – wird sofort alles schon ab dann in Euro ablaufen, aber da das alles untereinander gefixt und damit auch gleich zum Euro gefixt ist, ist es nur noch eine Rechenaufgabe. Darüber hinaus gibt es einen Finanzmarkteuro in Form von Buchgeld, was also nur auf Konten bewegt wird. Es wird nicht in Geldscheinen, nicht in Münzen gezahlt, und zwar auch deswegen, weil wir die Geldscheine und Münzen ja erst noch produzieren müssen.
Sie waren früher einmal Geschäftsführer des Cusanus Studienwerkes. Haben Sie irgendwelche Ratschläge, wie man sein Studium gut finanzieren kann?
Ich habe mein Studium größtenteils durch eigene Arbeit finanziert und habe in meinem Leben – glaube ich – 15 oder 16 Berufe ausgeübt bis zum Bergmann unter Tage. Ich war immer ein Anhänger eines leistungsbezogenen und bedürftigkeitsbezogenen Studienhonorars. Ich bin im Grunde ein Gegner einer generalisierenden Studienförderung, weil ich immer noch der Meinung bin, daß die eigene Leistung und die eigene Verantwortung das Entscheidende sind. Wo Leistung ist, da soll man auch finanziell helfen. Und deswegen bin ich persönlich auch der Meinung, daß das Darlehen gar nicht so falsch ist. Das Darlehen, dessen Raten dann übrigens mit besonderen Leistungen wieder reduziert werden können. Ich halte das für richtig und aus der Sicht der gesamten Gesellschaft. In Wahrheit werden öffentliche Gelder eingesetzt, die von vielen Menschen, die dafür hart arbeiten müssen, erwirtschaftet werden, damit andere studieren können. Und wenn Sie mal schauen, was ein Studienplatz kostet, dann erkennen Sie das Privileg. Und das Privileg muß verdient werden. Das ist meine persönliche Meinung. Fazit also: Jeder sollte sich intensiv bemühen, Leistungen zu bringen – im eigenen Interesse, aber auch im Interesse der gesamten Gesellschaft. Mit dem Studium werden Lebenschancen, und zwar nicht nur materielle, sondern auch immaterielle, verteilt. Weil ich jemand bin, der sich damals hart für Studienförderung eingesetzt hat, gehöre ich nicht zur Generation, die sich für den Null-Tarif entscheidet.
[Lehrer:] Ich habe noch eine Frage zu einem anderen Bereich: Sind wir eine Gesellschaft, die nur auf Schulden aufgebaut ist?
Unsere Schulden sind zu groß. Aber Schulden sind kein Problem, wenn sie zur Finanzierung des „Potentials der Zukunft" benutzt werden. Hierzu ein Beispiel: Wenn sie eine Fabrik bauen, dann bauen sie Schulden auf, die sie nicht am ersten Tag zurückzahlen können. Sie bauen ein Potential auf, aus dem sie dann hinterher Erträge erzielen. Wenn sie dieses Bild übernehmen in die Gesellschaft: Schulden für konsumtive Ausgaben sind ein dickes Problem, weil es ja im Grunde eine Finanzierung für etwas ist, das verbraucht wird. Schulden dagegen für den Aufbau – das kann Bildung, Wissenschaft, Infrastruktur sein –, darin sehen wir die Finanzierung von etwas, was wir „Produktionspotential der Zukunft" nennen. Den sozialen Konsum über Schulden zu finanzieren, halte ich für eine schlimme Sache. Denn dann verlagere ich die Schulden für den heutigen Genuß auf den Bürger der Zukunft. Deshalb ein Ja zu einer vernünftig dimensionierten Verschuldung und ein Nein zu einer Verschuldung, die aus den Dimensionen herausgerät und für falsche Zwecke verwendet wird.
Vielen Dank für das Interview, Herr Dr. Tietmeyer.