Gräfin Dönhoff: Also, wie stellt ihr euch das Interview denn vor? Soll ich erst einmal ein paar Worte über die ZEIT sagen, was wir eigentlich machen und erreichen wollen, und dann stellt Ihr Fragen?
Wir hatten ja einen großartigen Anfang, 1946, da war endlich die Hitlerei weg, das Land war ganz zerstört, die Leute ganz verwirrt, und es lohnte wirklich sich zu sagen: So, jetzt haben wir eine Aufgabe, wir versuchen die beste Zeitung in Deutschland zu machen. Wir indoktrinieren die Bürger nicht, sondern legen ihnen die Probleme dar und geben ihnen die Möglichkeit, ihre Urteile neu zu bilden. Sommer und ich haben manchmal, wenn wir uns nicht einigen konnten, zwei Leitartikel auf der ersten Seite abgedruckt, der eine war für eine Sache, der andere dagegen. Wir wollten den Lesern Meinungen an die Hand geben. Für mich war immer ein Leitsatz, dass ich in einer aufgeheizten und aufgeregten Situation versucht habe zu beruhigen und zu kühlen. Und wenn die Menschen vor lauter Pragmatismus, der schon Opportunismus geworden war, eingeschlafen waren, habe ich versucht sie aufzurütteln, damit sie wieder aufwachen.
Welche Werte kann das alte Preußen der Jugend von heute vermitteln?
Gräfin Dönhoff: Ich bin ja sehr überzeugte Preußin. Und wenn ich definieren soll, was für Preußen typisch war, dann würde ich sagen eine gewisse Kargheit in jeder Beziehung, kein Luxus … ich glaube, das kann man wirklich sagen, dass Wohlstand immer ein bisschen Verdacht erregte. Da kommen die Leute nicht dazu, wirklich nachzudenken. Dazu gehörte auch eine religiöse und ethische Grundhaltung, nicht wie heute, wo das Wichtigste immer Wirtschaft ist. Das finde ich immer sehr traurig, dass alles Menschliche und Künstlerische an den Rand gedrückt ist. Und das ist natürlich ein Gegensatz zu Preußen. Ich denke mir, wenn man sich heute etwas wünschen könnte, dann würde ich mir wünschen, dass mehr ethische Gesichtspunkte in den Alltag kommen. Wir sehen ja, wohin diese Brutalität und Rücksichtslosigkeit, nur Wirtschaft, nur Eigennutz, wohin das führt. Nicht wahr, alle diese schrecklichen Sachen, dass eine Lehrerin erstochen wird von einem Schüler, die ganze Klasse sitzt da, guckt zu, macht nichts, das war in Preußen ganz unmöglich.
Glauben Sie denn, dass die Eltern ihren Kindern keine ethischen Anhaltspunkte mehr geben?
Gräfin Dönhoff: Das ist eine gute Frage. Wie kommt man raus aus dieser Situation? Das weiß kein Mensch. Sie können mit Gesetzen und Verordnungen nichts machen. Ich persönlich bin dennoch optimistisch, weil ich tröste mich damit, dass das dialektische Gesetz in der Politik und in der Geschichte genauso gültig ist wie ein naturwissenschaftliches Gesetz in der Mathematik. Dinge entwickeln sich, steigern sich, werden immer problematischer, egal, was es ist. An einem bestimmten Punkt, den man leider nicht vorhersehen kann, da sagen die Leute plötzlich, enough is enough, und nun wollen wir das Gegenteil. Das findet man immer wieder, wenn man die Geschichte betrachtet. Aber Herr Assheuer ist hier für Geschichte und Philosophie zuständig. Sie müssen sagen, ob Sie das Ganze abwegig finden. Aber das ist für mich eine wirkliche Hoffnung, dass einmal ein Tag kommt, wo die Leute sagen, was soll das Ganze? Wir rennen wie ein Eichhörnchen im Käfig das ganze Leben lang und am Schluss ist nichts da. In Ostpreußen gab es ein zutreffendes Wort. Dort sagte man: Das letzte Hemd hat keine Taschen.
Dr. Assheuer: Ich würde nur einen winzigen Unterschied machen. Naturgesetze gelten auch morgen noch. Ob dieses Gesetz morgen noch gilt, das ist die Frage. Ansonsten haben Sie schon recht.
Gräfin Dönhoff: Also, wenn es über viele hundert Jahre galt, ist anzunehmen, dass es auch morgen noch gilt. Also, da ist doch eine gewisse Hoffnung.
Dr. Assheuer: Aber ich finde einen Punkt von ihnen doch ganz wichtig. Ethik muss in Motiven verankert werden. Und diese Motive kann man nicht durch Gesetze zwangsweise herbeiführen. Das ist das Problem. Man muss den Menschen schon davon überzeugen.
Gräfin Dönhoff: Ich meine, es ist einleuchtend, was Sie sagen. Aber auf der anderen Seite muss man doch sagen, man kann eine ganze Menge mit der Erziehung erreichen. Aber heute gibt es im Elternhaus schon keine Barrieren mehr, in der Schule auch nicht. Ich weiß nicht, ob ich das sagen kann, aber in der Großstadt sieht man wirklich viele Leute, die so angepöbelt werden und eigentlich nichts machen können. Ich habe neulich von einer American association eine Untersuchung gelesen. Da haben die festgestellt, dass einer, der heute 15 wird, 8.000 Morde in seinem Leben im Fernsehen gesehen hat. Das ist natürlich interessant. Wenn man das einschränken könnte, keine Gewalt im Fernsehen, würde das schon ein bisschen nützen, glaube ich.
In Preußen spielten Religion und Kirche eine wichtige Rolle. Sollte die Kirche nicht probieren, den Menschen wieder Anhaltspunkte zu geben?
Gräfin Dönhoff: Kann man sich vorstellen. Muss mal unseren Philosophen fragen. Es ist doch egal, wie die religiösen Vorstellungen sind, ob sie christlich sind oder mohammedanisch oder was weiß ich, wie sind. Sie haben doch alle ethische Vorstellungen. In was wurzeln diese Vorstellungen?
Dr. Assheuer: Ja, am Anfang selbstverständlich in religiösen Weltbildern, ausschließlich sogar. Aber man kann sagen, dass in der Neuzeit, der Aufklärung, dieses religiöse Weltbild zu einer weltlichen Moral wurde, bei Kant zum Beispiel. Trotzdem ist der Kontakt zur Religion nicht ganz verloren gegangen. Was ich heute allerdings mit Unruhe sehe, ist, dass religiöse Weltbilder in die Industrie auswandern. Ich war gerade in Wolfsburg in der Autostadt, und das ist wie ein Gottesdienst inszeniert. Da wird das Sakrale übertragen auf Konsumgüter.
Gräfin Dönhoff: Und wie macht man das?
Dr. Assheuer: Das Auto wird als das Heilige inszeniert auf einem Altar. Es wird eine Hostie gereicht, und es gibt richtig die Niederkunft des Autos aus dem Himmel auf die Erde. Parallel dazu gab es einen Gottesdienst. Also, da hat man genau das Gegenteil, die religiöse Metaphorik wandert in die Industrie. Und das ist natürlich das Ende einer Religion.
Gräfin Dönhoff: Ja, das ist wahr. Aber in einer amerikanischen Untersuchung wurde festgestellt, dass die Jugendlichen in Amerika länger vor dem Fernseher sitzen, als sie in der Schule zubringen. Da kann einem natürlich auch ganz schön Angst werden.
Aber wird diese Normenlosigkeit nicht auch teilweise durch die Medien dramatisiert oder sogar gefeiert?
Gräfin Dönhoff: Man muss sich vielleicht verständigen, was ist die Aufgabe der Medien? Und die ist natürlich im Grunde nur, Informationen zu geben. Und vielleicht kann man noch sagen, Herrschaft durchschaubar machen und damit eine gewisse Kontrolle auszuüben, aber nicht Werte zu setzen. Das ist nicht ihre Aufgabe. Ich denke immer, wenn die Menschen sich heute beschweren und sagen, die Medien sind Schuld, die haben das alles gemacht, dann muss ich sagen, die Medien sind ein Spiegelbild der Gesellschaft, und wenn die Gesellschaft sich nicht mehr interessiert, sondern mehr Spaß und Unterhaltung haben will anstatt Informationen, dann kriegen sie das.
Die Medien, glaube ich, muss man vielleicht ein bisschen differenzierter sehen. Gefährlich sind doch insbesondere Informationsfilme im Fernsehen, bei denen die Grenze zwischen Realität und Erfindung oder Übertreibung nicht erkennbar ist.
Im Fernsehen werden ja oft Sendungen über das dritte Reich gezeigt. Was halten Sie davon, ist das noch Information und Mahnung, oder ist es schon Teil des Unterhaltungsprogramms?
Gräfin Dönhoff: Die historischen Serien von Guido Knopp zum Beispiel finde ich im Grunde sehr gut. Da spürt man die Bemühung, die Darstellung wirklich objektiv zu halten. Finden Sie das auch, Herr Assheuer?
Dr. Assheuer: Bei den neueren Serien von Guido Knopp sehe ich eine Gefahr. Er fängt jetzt an, historische Szenen nachzuspielen, also mit Schauspielern zu besetzen. Das heißt, er dreht Dokumentarfilme und baut darin Schauspielszenen ein. Und das ist eine unzulässige Fiktionalisierung von Geschichte. Ich glaube nicht, dass man das nachspielen kann. Man kann Hitler, Goebbels, Göring, Stalin nicht nachspielen. Das wirkt verniedlichend. Und das stört mich bei diesen Sendungen. Und überhaupt beunruhigt mich die Auflösung vom Dokumentarfilm in ein Schauspiel hinein, weil dann nämlich die ganze Geschichte zu einem Schauspiel wird. Und dann verliert sie ihren Ernst.
Gräfin Dönhoff: Ja, aber außer den Wochenschauen gibt es dann kein Material.
Dr. Assheuer: Aber damit kann man doch auch auskommen.
Ich glaube, die Klemme, in der dieser Mann sitzt, ist, dass die Leute, die er ansprechen will, durch soviel Fernsehen, durch große farbenprächtige und laute Medien einfach schon so abgehärtet sind, dass er irgendwie erreichen muss, dass sie noch reagieren. Da übertreibt er dann oft oder versucht es möglichst effektvoll darzustellen, einfach um Leute überhaupt noch ansprechen zu können. Und das ist das Gefährliche daran.
Dr. Assheuer: Und uns verstimmt der Effekt, also das Effekthascherische dabei.
Gräfin Dönhoff: Wenn man sich aber mal überlegt, wie man das eigentlich machen könnte … Man kann Zeitzeugen auftreten und schildern lassen, aber die sterben ja nun auch aus. Oder man kann vorlesen aus Büchern, historischen oder Biographien. Aber das prägt sich nicht so ein wie Bilder. Darüber denkt man eigentlich gar nicht genug nach, dass es tausende von Jahren als Zeugnisse nur das Wort, nur schriftliches Zeugnis gab, von Homer über die Evangelisten bis zu Thomas Mann, und plötzlich gibt es Bilder. Das ist natürlich eine so unheimliche Veränderung, weil sie einprägsamer sind.
Ich habe den Eindruck, dass die ZEIT auch dem Zeitgeist huldigt und sich verändert. Texte werden kürzer, der Schreibstil ändert sich. Sind Sie mit der Entwicklung der Wochenzeitung DIE ZEIT so, wie sie in den letzten Jahren abgelaufen ist, zufrieden?
Gräfin Dönhoff: Also manchmal ist mir zuviel Kokolorus dabei, zuviel spekulieren auf Effekte. Das schlimmste Beispiel gab es am Anfang der Umstrukturierungen. Da gab es einen Leitartikel, der hieß „Jacke wie Hose“. Und da hatten sie tatsächlich die ganze erste Spalte eine Jacke und die ganze letzte Spalte eine Hose und dazwischen Text. Das war also so was ganz Absurdes, kommt auch nie wieder vor. Da kann man sehen, was ich meine, was mich stören würde, die Effekthascherei mit solchen Sachen.
Heutzutage gibt es ja Informationen ohne Ende, die neuesten Nachrichten kann man sich so aus dem Internet ziehen, oder man schaltet das Radio oder den Fernseher an, überall gibt es Informationen. Meine Frage ist nun, wie stellen Sie sich die Zukunft der ZEIT bzw. der Zeitungen vor? Meinen Sie, dass es in 50 Jahren noch gedruckte Zeitungen zu kaufen geben wird oder wird das Internet diese Aufgabe übernommen haben?
Gräfin Dönhoff: Das ist eine sehr gute Frage. Ich fürchte, es wird sehr schwierig für uns werden, weil das Internet ersetzt ja eine Suchgewohnheit. Früher musste man bei der Wohnungssuche morgens ganz früh die Zeitung durchblättern und die Anzeigen durchsehen. Im Internet findet man es ganz genau mit Schilderung, wo es eine gibt, manchmal sogar mit Bildern. Die Presse lebt von Anzeigen. Bei uns stehen Anzeigen- und Verkaufserlöse im Verhältnis ungefähr 50 zu 50 und bei der Tagespresse 70 zu 30, also ein noch höherer Anteil an Anzeigen. Wenn das zum großen Teil ins Internet abwandert, dann weiß ich nicht, was die Presse dann noch macht. Und ich glaube, für gewisse Sachen wird das einfach so sein.
Dr. Assheuer: Ja, Automarkt, Berufsmarkt, Wohnungsmarkt geht per Internet auch einfacher.
Gräfin Dönhoff: Ja, eben.
Warum hat die ZEIT eigentlich dieses riesige Format?
Dr. Assheuer: Das ist, glaube ich, nicht größer als alle anderen Zeitungsformate auch.
Gräfin Dönhoff: So ist es auch. Die New York Times ist natürlich noch ein Stück größer. Mir ist die ZEIT auch nie als besonders groß aufgefallen, aber die Leser, glaube ich, rächen sich für die Menge, die zu bewältigen ist. Sie sagen nicht nur zu dick, sondern auch zu groß. Ich erinnere mich, es ist natürlich sehr lange her, vielleicht 20 Jahre, da waren irgendwelche Ärgernisse hier ausgebrochen, und da habe ich gesagt: „Kinder, warum machen wir denn nicht was, lass die doch ihre ZEIT machen!“ Wir, das waren, glaube ich, Sommer, Kuenheim, ich und noch irgendwie zwei. Wir machen eine Zeitung vollkommen ohne Anzeigen, ganz dünn, 16 Seiten und nur wichtige Sachen, gute Analysen und kurze Berichte. Furchtbar viel Geld braucht man eigentlich nicht, aber nachher hatten wir nicht den Mut. Es hätte die alte zerstört und die neue wahrscheinlich auch.