Mathe? Physik? Chemie? Für viele Schüler ein Horror. Nicht in Aurich. Hier können sie in Praktika den Forscher-Alltag erleben und mit Nobelpreisträgern diskutieren. Vorbildhaft: die Auricher Wissenschaftstage.
Von Iris Ockenfels
Montag Morgen, 7 Uhr: Während die meisten Schüler aufstehen, um nach dem Frühstück zum Mathematik-, Sport- und Geschichtsunterricht aufzubrechen, oder sich einfach noch einmal im Bett herumdrehen, steht für einige andere Ungewöhnlicheres auf dem Stundenplan. Lambert Schless (18) zum Beispiel hat um diese Zeit schon seinen weißen Kittel übergestreift: Der Oberstufenschüler begleitet einen Chefarzt bei der morgendlichen Visite. Derweil nimmt Tina Holzhäuser (18 ) eine künstliche Befruchtung an Zebrafischen vor. Und der 17-jährige Philipp Ronzheimer hilft bei einem Experiment zur Entwicklung neuartiger Solarzellen.
Aus dem Schulalltag ausbrechen und Wissenschaft hautnah erleben – für Oberstufenschüler/innen aus dem ostfriesischen Aurich gehört das zum Lehrangebot. Am Gymnasium Ulricianum und den Berufsbildenden Schulen (BBS II) haben sie jedes Jahr Gelegenheit, sich für ein Stipendiatenprogramm zu bewerben. Wer ausgewählt wird, arbeitet eine bis drei Wochen als Praktikant Seite an Seite mit Wissenschaftlern in Forschungseinrichtungen wie dem Deutschen Elektronen Synchrotron (DESY) in Hamburg oder dem Tübinger Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, aber auch im Auricher Krankenhaus oder der Uni-Bibliothek Göttingen. Allein vier deutsche Forschungszentren und zwei Max-Planck-Institute sind an dem Programm beteiligt. Über die Praktikumsvergabe entscheiden die Lehrer anhand der Zensuren.
Das Angebot ist Teil der Auricher Wissenschaftstage, einer Veranstaltung mit Modellcharakter für die Förderung wissenschaftlichen Nachwuchses: Jedes Jahr tummeln sich auf Einladung der Schulen Forscher der Institute und andere renommierte Vertreter aus Geistes- und Naturwissenschaften in der beschaulichen Kreisstadt im Zentrum Ostfrieslands, um Vorträge für die Schüler zu halten und mit ihnen zu diskutieren. Die künftigen Abiturienten berichten bei dem Anlass über ihre Praktikumszeit.
Ein hochkarätiger Besucherkreis folgte in den vergangenen Jahren dem Ruf aus der ostfriesischen Stadt: Nobelpreisträger wie die Medizinerin Christiane Nüsslein-Volhard und die Physiker Johannes Georg Bednorz und Klaus von Klitzing stellten ihre Entdeckungen vor. Alfred Grosser, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, sprach vor den Schülern, ebenso der Kosmonaut Thomas Reiter von der reparaturanfälligen Raumstation MIR, der Kirchenkritiker Eugen Drewermann und die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Für dieses Jahr werden Experten für Hirnforschung erwartet.
Die bunte Mischung ist beabsichtigt: „Darin spiegeln sich die Interessen der Schüler wider“, erklärt Alexander Stracke, der als Lehrer am Ulricianum gemeinsam mit seinen Kollegen Wolfgang Völckner und Josef Antony von den Berufsbildenden Schulen die Wissenschaftstage vor zehn Jahren ins Leben rief.
Den Anstoß zur Gestaltung dieser geistreichen Zusammenkunft gab 1989 das Forschungszentrum Jülich, das Vorträge für den Schulunterricht anbot. Die Idee zu einem regelmäßigen Austausch mit Wissenschaftlern war geboren. Damals war jedoch noch nicht abzusehen, dass einmal derart zugkräftige Namen die Programmzettel des alljährlichen Treffens zieren würden. „Berühmte Referenten nach Aurich zu locken war am Anfang sehr schwierig“, erinnert sich Völckner. Seitdem wächst der Bekanntheitsgrad der Veranstaltung stetig, wovon vor allem die Schüler profitieren. „Viele neue Praktikumsangebote kommen hier zu Stande“, berichtet Völckner. Gab es vor einer Dekade gerade mal eine Handvoll solcher Stellen, sind es nun 50 bis 70 pro Jahr. Für das eher symbolische Honorar der Redner und die Institutsaufenthalte der Schüler macht die Kreissparkasse Aurich regelmäßig Geld aus ihrer Kultursponsoring-Kasse locker.
Das Programm wirkt sich laut Stracke positiv auf das wissenschaftliche Interesse der Oberstufenschüler aus. Das erkennt er an den steigenden Schülerzahlen in den – sonst ungeliebten – naturwissenschaftlichen Kursen: „Vor ein paar Jahren hatten wir Mühe, genügend Schüler für einen Physik-Leistungskurs zusammenzubekommen. Seit sie aber Forschungsarbeit selbst erleben, reichen die Teilnehmerzahlen für einen großen Physik-und sogar zwei Chemiekurse.“
Aus der zwölften Jahrgangsstufe haben 14 Prozent der Schüler Chemie und elf Prozent Physik als Leistungsfach. Zum Vergleich: Von Hamburger Oberstufenschülern belegten 1998 lediglich 8,9 Prozent Physik und 9,4 Prozent Chemie.
Die Auricher setzten Maßstäbe: Sie wirken auch dem allseits beklagten Mangel an Mädchen in naturwissenschaftlichen Fächern entgegen. Völckner: „Wir bemühen uns um gleiche Zahlen von Mädchen und Jungen in den Leistungskursen und im Stipendiatenprogramm. Oft trauen sich gute Schülerinnen die Bewerbung bei einem naturwissenschaftlichen Institut nicht zu. Wir ermuntern sie dann, es zu versuchen.“
Auch Tina Holzhäuser fühlte sich vor ihrem Praktikumsantritt im Tübinger Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie etwas überfordert: „Ich habe geglaubt, dort ginge es sehr steif zu, und ich würde nichts verstehen. Aber das waren junge, lockere Leute, die mir alles erklärt haben.“ In der Forschungsgruppe für Zebrafische lernte sie, wie eine Gen-Kartierung zur Erfassung genetischer Entwicklungen erstellt wird. „Entwicklungsbiologie interessiert die Schüler im Unterricht nicht. In Tübingen erkennen sie aber, dass sich dahinter ein faszinierendes Anwendungsgebiet verbirgt“, weiß die Biologielehrerin Gunda Helmke vom BBS II. Sie nutzt den Kontakt auch, um sich selbst auf den neuesten Stand zu bringen.
Das Programm soll aber nicht nur wissenschaftliche Neugier wecken, sondern auch Einblicke in das Berufsleben geben und die Studienfachwahl erleichtern. Horst Geiger, Biotechnischer Assistent in Tübingen, achtet darauf, den Praktikanten ein realistisches Bild zu vermitteln: „Die meisten Chemiker und Biologen hangeln lange von Stelle zu Stelle, unter dem ständigen Druck, publizieren zu müssen.“
Lambert Schless braucht solche Entscheidungshilfen nicht mehr. Für ihn stand schon vor dem Praktikum im Kreiskrankenhaus Aurich der Berufswunsch Chirurg fest: „Die Arbeit in der Klinik hat mich in meinem Entschluss bestärkt“, sagt er. Seit drei Jahren lädt Chefarzt Hans-Jörg Klotter Schüler ein, die tägliche Visite und die Arbeit im Operationssaal zu verfolgen. „Manche fallen beim Anblick eines aufgeschnittenen Körpers um und merken, dass sie mit kranken Menschen oder Blut nicht umgehen können“, so Klotter. Ihm geht es darum, spätere Studienabbrüche zu verhindern.
Der Kontakt mit dem Berufsalltag zeigt auch Grenzen von Forschung auf. Philipp Ronzheimer hat im Berliner Hahn-Meitner-Institut die Entwicklung von Dünnschicht-Solarzellen beobachtet und kennt nun die Probleme der Tüfftler: Die Produktion des zukunftsträchtigen Energiespenders ist sehr teuer.
Doch trotz des bodenständigen Realismus ließen sich die Praktikanten vom Forschungsdrang der Wissenschaftler anstecken. Jens Gerken (18) fand im Hamburger DESY manchen Vorteil gegenüber der Schule. „Das Arbeitsklima ist nicht wie in der Schule, wo jeder gegen jeden steht. Die unterstützen sich gegenseitig“, erinnert er sich an die Experimente am Speicherring, die auch der medizinischen Strahlentherapie dienen.
Die Mehrzahl der Stipendiaten ist von dem Angebot begeistert. Und jetzt, da die Wissenschaftstage etabliert sind, hofft das Trio der Organisatoren auf eine Erweiterung. Wolfgang Völckner: „Wir möchten auch andere Schulen von unserer Idee überzeugen.“