Meine sehr geehrten Damen und Herren,
vor allem aber: liebe Schülerinnen und Schüler,
ich freue mich sehr, heute Abend bei der Eröffnung der 24. Auricher Wissenschaftstage dabei sein zu dürfen.
Mit der 1989 am Fachgymnasium der BBS II entstandenen Idee zu den Auricher Wissenschaftstagen ist ein Projekt ins Leben gerufen worden, von dem man mit voller Überzeugung sagen darf, dass es seiner Zeit voraus war und tatsächlich auch noch heute, ein Vierteljahrhundert später, zukunftsweisend ist.
Die sogenannte »Dritte Kultur«, mit der hochqualifizierte Wissenschaftler ihre avancierten Forschungen und Theorien auf allgemeinverständliche Art und Weise einem breiten, wie hier in Aurich vornehmlich jungen Publikum nahe bringen, hat inzwischen einen festen Platz in der Bildungslandschaft. So feiert in meiner Heimatstadt Göttingen die erfolgreiche Kinderuni gerade ihren 10. Geburtstag. Damals wie heute ist der persönliche, unmittelbare Kontakt junger Menschen zu hochqualifizierten Wissensvermittlern von gar nicht zu überschätzender Wichtigkeit.
Aber 1989 konnte man noch nicht einmal ahnen, wie dramatisch sich unsere Wissensgesellschaft in den kommenden Jahren verändern würde – das wäre damals allenfalls Stoff für einen Science-Fiction-Roman gewesen.
Denn seither hat das Internet die Art und Weise, wie Menschen sich Informationen aneignen, in ungeahnter Weise revolutioniert. Lassen Sie mich das an einem populären Beispiel erläutern:
Am 20. Januar 2001, zwölf Jahre nach der Idee zu den Auricher Wissenschaftstagen, ist das Projekt Wikipedia gegründet worden, das heute wohl für uns alle hier die Informationsquelle Nr. 1 ist, wenn es um schnelle Recherchen geht. Quellen wie Wikipedia sind hier bei uns in Deutschland, wo nicht nur der PC, sondern auch das Smartphone, das Handy, der Tablet-Computer mittlerweile zur Grundausstattung eines immens hohen Prozentsatzes der Bevölkerung (zumal der jüngeren) gehören, an fast jedem Ort und zu jeder Tageszeit für jedermann verfügbar.
Wir alle hier benutzen dieses Portal oder andere, vergleichbare Websites, oft vielfach täglich.
Wenn man 1989, als diese Auricher Idee geboren wurde, etwas über – sagen wir mal: – die Heisenbergsche Unschärferelation wissen wollte, ging man vielleicht an das heimische Bücherregal, griff zum Brockhaus oder ging in eine Bibliothek, lieh sich dort ein halbes Dutzend dicker physikalischer Fachbücher aus und brauchte Stunden oder Tage, bis man vielleicht zumindest ahnte, was das denn sein könnte, diese unglaublich komplizierte Heisenbergsche Unschärferelation. Namen wie Albert Einstein, Max Planck oder Niels Bohr fand man dort dann in den Fußnoten der Bücher, und entsprechend führte der Weg, wenn man mehr wissen wollte, zu anderen Büchern in anderen Regalen und vielleicht in andere Bibliotheken.
Diese Art des Wissenserwerbs kommt uns heute, nur 25 Jahre später, als geradezu steinzeitlich vor. Denn heute gibt es das Internet.
Wenn Sie das Thema Heisenbergsche Unschärferelation in der Wikipedia aufrufen, dann finden Sie dort eine weitgehend allgemeinverständliche Erklärung, mit der auch der mathematisch-physikalische Laie einigermaßen etwas anfangen kann, zumal dann, wenn er sich systematisch durch die Hyperlinks klickt und somit rechts wie links vom eigentlichen Thema liest – über Quantenphysik, Einstein, Planck und Bohr zum Beispiel.
Auch solche Portale wie die Wikipedia sind letztlich wissenschaftliche Hilfsmittel, die sich so etwas wie der »Dritten Kultur« verdanken, denn zahllose Wissenschaftler weltweit tragen mit ihren Beiträgen dazu bei, ihre oftmals hochgradig komplizierten Theorien und Erkenntnisse einem breiten Publikum aller Wissensgebiete, aller Altersstufen und Bildungsgrade auf allgemein verständliche Art und Weise mitzuteilen.
Das geschieht dabei keineswegs in individueller Arbeit, sondern durch kooperatives Schreiben an ein und demselben Thema: Wirft man einen Blick auf die Versionsgeschichte des erwähnten Wikipedia-Eintrags Heisenbergsche Unschärferelation, dann sieht man, dass viele Dutzend von freiwilligen Wikipedia-Autoren aus aller Welt daran in den letzten Jahren mitgeschrieben haben – es sind so viele, dass es kaum noch zu überblicken ist.
Durch solche Modelle sind unsere Bildungsmöglichkeiten erweitert und in noch vor wenigen Jahren ganz und gar undenkbarer Art und Weise demokratisiert worden. Auch werden kulturelle und soziale Zugangshürden zu Wissen geringer. Musste man früher noch in die nächstgelegene Universitätsstadt reisen, um dort die Bibliothek aufzusuchen, reichen heute zwei, drei Klicks im Netz aus. Weltweit, überall. Rund um die Uhr. Im Liegen, Sitzen, Stehen, im Fitness-Studio oder im Stadtbus.
Das hat jedoch nicht nur Vorteile. Zum einen mag man gelegentlich dem Irrtum erliegen, derjenige sei besonders intelligent, kreativ oder gebildet, der am besten mit Google umzugehen weiß. Das ist, versteht sich, kompletter Unsinn.
Zum anderen liefert das Internet mitunter die Erziehung zur Faulheit – man muss nicht mehr lernen (geschweige denn: auswendig lernen), sondern nur noch die richtigen Lesezeichen setzen.
Es ist aber eine Binsenwahrheit, dass man mit Wissen, das man im Kopf hat, deutlich mehr anfangen kann als mit solchem, das auf einer Festplatte oder in einer Cloud gespeichert ist.
Zum anderen läuft die Wissenschaft dadurch Gefahr, anonymisiert zu werden. Wo früher eine konkrete Person – ein Lehrer, Professor, Buchautor – hinter einer Theorie stand, die wir uns erarbeitet haben, sind es jetzt Bits und Bytes, die uns beim Lernen helfen.
Manchmal, muss man leider sagen, manchmal verliert die Wissenschaft damit ihr Gesicht. Man ist geneigt, den denkenden Menschen hinter den Theorien zu übersehen – das immens kluge Individuum verliert in der Schwarmintelligenz des World Wide Web für die Lesenden und Lernenden seine Individualität.
Umso wertvoller sind solche direkten Begegnungen zwischen Wissenschaftlern und Schülern, wie sie die Auricher Wissenschaftstage ermöglichen, und ganz besonders die spannenden Praktika – ob auf dem Forschungsschiff Meteor, bei einer Expedition auf den Spuren der Mammuts, bei einer archäologischen Grabung oder auch im Niedersächsischen Landtag.
Für alle diese Begegnungen gilt: Das Gespräch, der persönliche Umgang, bringt einen oft erst auf die Idee, unbedingt etwas wissen zu wollen, von dem man vorher nicht wusste, dass man es wissen wollen würde. Einem Menschen hört man oft viel aufmerksamer zu, als man liest – weil man nämlich instinktiv weiß, dass das Zuhören eine einmalige Angelegenheit ist, bei der man nicht einfach nach oben scrollen kann, wenn einem etwas entgangen ist.
Hinzu kommt noch etwas anderes: Im Internet, unserem Wissenszugang Nr. 1, haben wir es vielfach mit sogenanntem unzertifizierten Wissen zu tun. Es ist eben nicht mehr ein identifizierbarer Lehrer oder Wissenschaftler, dem wir Wissen verdanken, es ist kein Buchautor mehr, der mit seinem Namen und seiner Reputation für Richtigkeit der Informationen bürgt, sondern der große Unbekannte.
Um das anekdotisch zu untermauern: Fragt man heute Ärzte, welche Patienten sie am meisten fürchten, dann antworten sie in der Regel: »Solche mit Internet-Zugang«. Denn die neigen dazu, sich selbst Diagnosen zu stellen und auch gleich die entsprechende Therapie zu verordnen, die sie auf irgend einer Ratgeber-Seite gefunden haben.
Hier und heute haben Sie es mit zertifiziertem Wissen zu tun – mit Wissenschaftlern aus Fleisch und Blut, die Ihnen ganz persönlich Rede und Antwort stehen.
Auch deshalb sind solche Möglichkeiten, wie sie die Auricher Wissenschaftstage bieten, so unendlich wertvoll. Sie generieren Ideen, sie wecken neue Interessen. Sie überwinden die Grenzen zwischen Generationen, zwischen Lernenden und wissenschaftlichen Kapazitäten. Sie sorgen dafür, dass buchstäblich weltbewegende Fragen hier in diesem Kreise erörtert werden – und die Sie, die Schülerinnen und Schüler, vielleicht die Wissenschaftler der Zukunft, dazu anregen können, sich anschließend selbst mit diesen Themen zu beschäftigen. Und das hebt Sie alle dann auch ein wenig ab von der bloßen Schwarmexistenz.
Vielleicht werden Sie von Menschen, die vom Schwarm profitieren, schon bald zu Menschen, die zum Wissen des Schwarms beitragen.
Liebe Schülerinnen und Schüler: Ich wende mich direkt an Sie, denn Sie sind eine Generation, auf die wir große Hoffnungen setzen und deren Bildungsmöglichkeiten wir entschieden verbessern möchten.
Nutzen Sie diese Veranstaltung so nachhaltig wie möglich aus! Seien Sie neugierig, stellen Sie Fragen, beäugen Sie die Antworten dabei auch ruhig einmal mit Zweifel, getreu dem Ratschlag des berühmten Göttinger Universalgelehrten Christoph Georg Lichtenbergs „Zweifle an allem wenigstens einmal und wäre es auch der Satz: Zweimal zwei ist vier!“
Vor allem aber: Lassen Sie sich auf Ideen bringen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass Ihnen das großartige Programm, das Ihnen hier bevorsteht, alle Möglichkeiten dazu liefern wird.
Dr. Gabriele Andretta
Vizepräsidentin des Niedersächsischen Landtages