Am 5. September 2023 fand in Berlin ein spannendes Interview mit dem renommierten Politiker Wolfgang Schäuble statt. Vier Schülerinnen und Schüler hatten die einzigartige Gelegenheit, den ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bundestages, den Bundesminister des Inneren, Bundesminister der Finanzen und langjährigen Bundestagsabgeordneten persönlich zu treffen. Das Interview wurde im Rahmen der Auricher Wissenschaftstage von drei Schülern und einer Schülerin des Gymnasiums Ulricianum und der BBS2 Aurich geführt, die sich intensiv auf das Gespräch vorbereitet hatten. Sie hatten nicht nur umfangreiche Recherchen über Herrn Schäubles politische Karriere angestellt, sondern sich auch mit seinem neuesten Buch auseinandergesetzt. Dadurch konnten sie gezielte Fragen stellen, die sowohl auf seine politische Laufbahn als auch auf die Themen in seinem Buch abzielten. Herr Schäuble nahm sich großzügig Zeit für die Schülerinnen und Schüler und ermöglichte ihnen einen tiefen Einblick in seine Erfahrungen und Perspektiven.

 

Kai Beitelmann

[...] dann würde ich gleich mit den Fragen beginnen Herr Schäuble. Die erste Frage, die ich habe, ist, wie man es schafft über ein halbes Jahrhundert lang aktive Politik zu betreiben und man so lange dabei sein kann?

 

Wolfgang Schäuble

Das plant man so nicht. Aber es hat mit politischer Leidenschaft zu tun. Ich hatte mir zu Anfang nicht vorgestellt, dass Politik mein Berufsweg würde, sondern Politik hat mich einfach sehr interessiert. Meine Vorstellung war nicht, dass ich Politik zu meinem Beruf mache, denn ich war zu dem Zeitpunkt in der Steuerverwaltung.

Es gab dann 1972 eine vorgezogene Bundestagswahl und dann haben Sie in dem in dem Wahlkreis, in dem ich letztlich Kandidat wurde, einen neuen Bewerber gesucht. Damals waren die Ergebnisse in den Wahlkreisen berechenbarer und das war ein sogenannter sicherer Wahlkreis für die CDU. Der bisherige Abgeordnete dieses Wahlkreises hatte schon gesagt, dass er beim nächsten Mal nicht mehr kandidiert. Dann wollte die Junge Union, deren regionaler Vorsitzender ich zu dem Zeitpunkt war, einen Kandidaten präsentieren. Die Wahl fiel auf mich, ich setzte mich dann erstaunlicherweise auch im Vorwahlkampf durch und errang somit das Mandat.

Es faszinierte mich immer mehr, es gab immer neue Aufgaben. Die ersten Jahre waren gut, als Abgeordneter war es für mich noch unheimlich spannend. Allein das ist ja auch schon eine große Ehre.

Im Laufe der nicht wenigen Jahre habe ich dann zahlreiche Ämter ausüben dürfen, die mich immer zum Teil auch über Gebühr gefordert haben und zugleich war ich mir immer des Privilegs bewusst, gestalten zu dürfen. Ich war auch ein Mann der Exekutive. Eine der wichtigsten und schönsten Stationen dabei war meine erste Zeit als Innenminister, in der ich den Einheitsvertrag mit Günther Krause ausgehandelt habe. Ich war aber auch sehr gern Fraktionsvorsitzender.

Aber der Kern der Antwort ist: Bei all dem Ärger, bei all der Last, wenn man dann im Rückblick betrachtet, was man alles erreicht hat, denke ich, ich muss verrückt gewesen sein. Wie man das geschafft hat, ist nicht immer gesund, aber es ist eine Leidenschaft und die bleibt bestehen.

Ilfat Houro
Also mich würde sehr interessieren, da Sie Politik auch als Leidenschaft bezeichnet haben, was Sie an Politik besonders fasziniert oder enttäuscht hat.

Wolfgang Schäuble
In der Politik hat man noch stärker als in vielen anderen Berufen mit Menschen zu tun, und das hat mich auch fasziniert. Es gibt unter Menschen unterschiedliche Typen, das können Sie schon in der Schule sehen. Es gibt welche, die immer ein bisschen Anführer sein wollen, sei es in einer Fußballmannschaft oder als Klassensprecher. Und in der Politik finden Sie im Bundestag die meisten davon. Manche stehen gerne vorne und wollen sagen, wo es langgeht, andere wiederum haben eine andere Meinung. Aber das ist ein spannender Wettbewerb, darüber zu streiten und zu diskutieren, im besten Sinne der Demokratie. Ich bin einer, der immer gerne vorne dran sein wollte. Und wenn man dann andere überzeugt und gewinnt, dann freut man sich und das spornt einen weiter an.

Niklas Gronewold
Ich würde gerne noch wissen, wie Sie ihre Arbeit und die ihrer Partei in den letzten 16 Jahren, in denen sie in der Regierung waren, bewerten würden und inwiefern die jetzige Weltlage und die und die jetzt herrschenden Krisen ihre Einschätzung beeinflussen?

Wolfgang Schäuble
Wenn Sie für Politik ein bisschen Interesse haben, dann muss natürlich die sich jeden Tag verändernde Lage der Welt auch jeden Tag Ihre eigene Meinungsbildung beeinflussen. Anders geht es gar nicht. Ich war nach der Regierung Kohls ebenfalls Mitglied in der Regierung von Angela Merkel, 12 Jahre lang. Während ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft hat Angela Merkel vieles erreicht. Natürlich haben wir auch Dinge falsch eingeschätzt und waren dabei auch nicht immer einer Meinung. Ich habe ihr immer gesagt, dass ich loyal, aber nicht bequem bin. Ich rate immer den Volksmund zu befolgen und die einfachen Wahrheiten ernst zu nehmen. Eine solche Weisheit lautet: "Wenn man vom Rathaus kommt, ist man klüger", also im Nachhinein weiß man es immer besser.

Kai Beitelmann
Direkt anknüpfend zu der Regierungszeit unter Frau Merkel habe ich noch eine Frage. Es ja so, dass während Corona die Schuldenbremse aufgehoben wurde. Die Schuldenbremse existiert noch nicht so lange und Sie waren Finanzminister, unter Oskar Lafontaine wurde dieser Posten ja noch gefährlichster Mann Europas genannt, als diese eingeführt wurde. Würden Sie sagen, dass die Schuldenbremse, auch angesichts der Krisen der letzten Jahre, noch eine aktuelle Regelung ist, oder dass man diese Regelung, die erst seit knapp 10 Jahren existiert, nochmal evaluieren sollte?

Wolfgang Schäuble
Während der Corona-Krise war ich nicht mehr Finanzminister, sondern Bundestagspräsident. Ich möchte jetzt auch gar nicht sagen, was ich gemacht hätte, wenn ich Bundesfinanzminister gewesen wäre. Das gehört sich gegenüber seinen Nachfolgern auch nicht, wenn man so ein Amt innehatte. In einer Föderalismuskommission zwischen Bund und Ländern wurde damals die Schuldenbremse eingeführt. Der Erfinder war eigentlich Peer Steinbrück, der damalige Finanzminister.

Ich hatte in der vorigen Frage bereits gesagt, dass eine sich jeden Tag verändernde Lage der Welt auch immer wieder neuer Abwägungen bedarf. „Es muss sich ändern damit alles so bleibt wie es ist“, ist in diesem Zusammenhang ein schöner Satz von Guiseppe Tomasi di Lampedusa. Im Kern allerdings sollte man in normalen Zeiten nie mehr ausgeben, als man einnimmt. Das habe ich während meiner Zeit als Finanzminister immer beherzigt und konnte sogar Überschüsse bilden, die dann meinen Nachfolgern in Zeiten großer Krisen, in denen es auch legitim ist, Schulden zu machen, nutzten. Aber: Der Wert eines Gutes wird durch seine Begrenztheit bestimmt und deshalb können wir auch nicht jedes Problem allein mit Geld lösen.

Kai Beitelmann
Ich hätte eine weitere Frage, welche die beiden Themen verbindet, die wir vorhin angesprochen haben, einmal das wirtschaftliche und einmal die Wiedervereinigung. Wenn Sie sich aus der heutigen Perspektive nochmal zurückversetzen könnten, was würden Sie bei der Wiedervereinigung anders machen, insbesondere in Bezug auf die damalige Treuhandanstalt?

Wolfgang Schäuble
Retrospektiv sieht man die Dinge immer anders: Wirtschaftlich gesehen war es grundlegend, die D-Mark so schnell wie möglich einzuführen. Wir hatten den Ruf der Ostdeutschen in den Ohren: Kommt die D-Mark, bleiben wir; kommt sie nicht, gehen wir zu ihr. Das hat dann natürlich ökonomisch viele Kosten verursacht zumal auch die Wirtschaft der DDR war nicht mehr wettbewerbsfähig war, weil eben das System nicht  wettbewerbsfähig war. Das lag nicht an den Menschen. Dafür, dass wir so eine Situation noch nie vorher hatten und uns deshalb auch kein Beispiel nehmen oder uns an einem vorherigen Fall orientieren konnten, haben wir es, finde ich, ziemlich gut gemacht.

Ilfat Houro
In ihrem Buch „Grenzerfahrungen“ hatte ich auch gelesen, dass Sie von der moralischen Verpflichtung und gesellschaftlichen Anstand sprechen. Würden Sie, nach ihren Erfahrungen, sagen, dass wir nach der Corona Krise einen gesellschaftlichen Anstand entwickelt haben und dass das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt ist?

Wolfgang Schäuble
Nein, im Gegenteil. Leider ist es genau anders. In der Corona-Krise haben viele Menschen aus allen Gesellschaftsschichten das Vertrauen in staatliche und kommunale Institutionen, Parteien sowie in Entscheidungen von zuständigen Stellen wie dem Stadtrat, dem Bürgermeister, der Stadtverwaltung und dem Gemeinderat verloren. Sie waren also nicht mehr bereit, Entscheidungen zu akzeptieren. Dies liegt auch daran, dass die Politik nicht wusste, wie sie auf das Virus reagieren sollte. Übrigens gab es ja auch in der Wissenschaft genügend Kontroversen. Ja, es war wirklich unglaublich. Dann kamen die Masken und plötzlich wurden alle Grenzen geschlossen, was insbesondere den Menschen in grenznahen Regionen, aus der ich ja auch komme, ich lebe in Offenburg, schwer zu schaffen gemacht hat. Dadurch ist etwas in den Menschen gebrochen und das macht die Situation jetzt mit vielen anderen Dingen so schwierig.

Hinzu kommt, dass sich die Öffentlichkeit durch moderne Kommunikationstechnologien dramatisch verändert hat, aber das war natürlich schon mit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg ähnlich. Stellen Sie sich nur mal vor, wie die Reformation von Martin Luther ohne Gutenbergs Erfindung abgelaufen wäre. Heutzutage geht alles noch viel schneller und deshalb ist die öffentliche Debatte stellenweise außer Kontrolle geraten. Diese Entwicklung gibt es nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa. Und wenn es in Europa noch nicht schlimm genug ist, dann schauen wir uns Amerika an. Dass jemand, der ins Gefängnis gehört, möglicherweise wieder Präsident wird, dass jemand, weil er die Wahl verloren hat, einen Staatsstreich versucht – das hätte man im Mutterland der Demokratie nicht erwartet.

Und dann gibt es auch noch die Klimakrise. Natürlich ist es auch so, dass die jüngere Generation zu Recht sagt: „Ihr wusstet doch, was ihr mit den ökologischen Lebensgrundlagen macht.“ Deshalb habe ich großen Respekt vor Fridays for Future. Es ist gut, dass sich jüngere Menschen stärker engagieren und sagen: „Für euch Alte ist es vielleicht nicht mehr so spannend. Das wird noch für euch reichen.“ Nicht lang bevor ich 1972 in den Bundestag kam, hat der Club of Rome seinen ersten Bericht veröffentlicht, der mich schwer beeindruckt hat. Spätestens da war klar, was kommen wird. Aber ich schweife ab, wie lautete die Frage?

Ilfat Houro
Die Frage war, ob sich ein moralischer und gesellschaftlicher Anstand, eine moralische Verpflichtung entwickelt hat.

Wolfgang Schäuble
Der Mensch hat, wie wir Protestanten auch sagen, eine Doppelnatur. Er ist von Natur aus zum Guten, begabt und fähig zu unglaublichen Leistungen. Sowohl im Großen als auch im Kleinen können wir erkennen, wie Menschen in der Geschichte Widerstand geleistet haben, zum Beispiel während der Nazi-Zeit, oder was Menschen heute in der Ukraine leisten. Auch die Leistungen der Menschen in Entwicklungsländern sind fantastisch, genauso wie ihr Zusammenhalt.

Aber gleichzeitig ist der Mensch auch fähig, das Schlimmste zu tun. Auschwitz markiert für uns Deutsche den absoluten Tiefpunkt dessen, wozu Menschen fähig sind. Es gibt beides, und deshalb braucht Freiheit Regeln. Grenzenlosigkeit zerstört alles. Es ist auch so, dass etwas seinen Wert verliert, wenn es im Überfluss vorhanden ist. Es muss Knappheit geben, um den Wert zu erhalten. Das sind auch Grenzerfahrungen. Wenn man sich das bewusst macht, hat man meiner Meinung nach eine Grundlage, um darüber nachzudenken, zu diskutieren, zu debattieren und auch zu streiten. Es geht darum, um Mehrheiten zu kämpfen und zu entscheiden, welche Regeln wir aufstellen, wie wir Ressourcen verteilen und wie wir vorgehen. Das ist es, was Politik so spannend macht. Wie Sie sehen, brenne ich immer noch für Politik.

Ilfat Houro
An die vorherige Frage schließt sich die an, wie man an Krisen wachsen kann – individuell, aber auch als Nation? Gibt es eine wichtige Grundlage, wie man als Nation, aber auch als Individuum an Krisen wachsen kann?

Wolfgang Schäuble
Es ist wichtig, sich in Krisenzeiten zu behaupten. Der frühere amerikanische Botschafter Vernon A. Walters kam im Frühjahr 1989 nach Deutschland. Er erzählte eine Geschichte. Er war mit einem amerikanischen General gegen Ende des Krieges in einer der zerstörten Städte im Ruhrgebiet und begleitete ihn als Assistent. Der General zeigte auf eine der Fensternischen in den Trümmerhäusern und sagte: „Schauen Sie hin. In dieser Blechdose sind ein paar Blumen." Und dann machte der Offizier eine geniale Aussage: „Schauen Sie hin, dieses Volk wird nicht untergehen. Ein Volk, das in solch verzweifelter Lage in einer Blechdose Blumen in eine Fensternische stellt, wird nicht untergehen.“ Schauen Sie, was die Menschen damals, insbesondere die Frauen, geleistet haben, während die Männer tot, verletzt oder in Gefangenschaft waren. Die Frauen haben das Land wieder aufgebaut. Es ist fantastisch, was sie geleistet haben. Unter Druck kann man Unglaubliches erreichen.

Deshalb sind Krisen, ähnlich wie beim chinesischen Schriftzeichen, auch Chancen. Das ist auch die Lehre des Sozialwissenschaftlers Karl Popper, der geschrieben hat, dass die offene Gesellschaft, also unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft, genauso Fehler macht wie eine totalitäre Gesellschaft. Aber sie kann ihre Fehler korrigieren. Trial and Error. Putin kann seine Fehler nicht korrigieren, ohne, dass seine Macht zusammenbricht. Xi Jinping auch nicht. Wir hingegen können das. Das ist der Vorteil einer offenen Gesellschaft mit dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Wir können aus Versuchen und Fehlern lernen. Das sind die Chancen, die eine Krise bietet.

Neels Mennenga
Sie haben gerade schon darauf angespielt, dass 2021 die amerikanische Demokratie fast zusammengebrochen wäre. Und verfolgt man die Nachrichten, dann könnte man den Eindruck bekommen, dass die westlichen Demokratien sich auf dem absteigenden Ast befinden. Sehen wir uns beispielsweise Afghanistan an, aber auch jüngst zum Beispiel Mali oder Niger. Meine Frage dazu ist, wie es der Westen schafft in einer Welt, wo seine politischen Gegner nicht unbedingt nach den international vereinbarten Regeln spielen, langfristig zu verhindern, dass sich die Autokratien immer weiter ausbreiten.

Wolfgang Schäuble
Wir, der Westen, sind leider nicht so gut, wie wir glauben. Denn wir halten uns selbst nicht immer an unsere eigenen Werte und Regeln. Auch andere Länder werden stärker, das müssen wir anerkennen.

Aber unsere Prinzipien, das, was wir als Werte bezeichnen – Humanität, Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde – sind so attraktiv, dass die meisten Menschen auf der Welt lieber so leben wollen wie wir. Deshalb wollen auch so viele zu uns kommen, nicht nach Russland, nicht nach China. Wenn wir wissen, dass die Mehrheit der Menschen, die nicht das Glück haben, so zu leben wie wir, es aber gerne hätten, dann müssen wir ziemlich dumm sein, wenn wir uns nicht dafür einsetzen, dass das, was wir als Glück haben und wovon andere nur träumen, funktioniert. Das ist unsere Aufgabe und unsere Verantwortung.

Neels Mennenga
2009 hat der damalige Vizekanzler Guido Westerwelle behauptet, dass sich die westliche Gesellschaft in einem Zustand der spätrömischen Dekadenz befände. Das war im Zusammenhang mit den Hartz 4 Reformen. Er hat am Ende die Aussage natürlich zurückgezogen, weil er dafür sehr viel Kritik einstecken musste. Aber schauen wir uns jetzt zum Beispiel die Entwicklung an, dass wir auch in den westlichen Kulturen immer stärker werdende rechte Kräfte haben, die immer weiter vorankommen und auch dass, wie schon angesprochen, im Ausland vielleicht unsere Wertvorstellungen in einigen Ländern, wie zum Beispiel Afghanistan, nicht so akzeptiert werden oder sich nicht durchsetzen können. Würden Sie darauf basierend sagen, dass sich unsere westliche Gesellschaft in einem Zustand der Dekadenz befindet?

Wolfgang Schäuble
Selbstgenügsam trifft es wohl besser. Es stimmt, im Vergleich zu anderen Ländern verlieren wir an Boden. Aber es wird wieder besser, wenn der Druck größer wird und das Bewusstsein dafür wächst, dass die Lage ernst ist. Dann wird es auch Veränderungen geben. Aber es gibt noch einen weiteren Aspekt: Die Sozialwissenschaften diagnostizieren eine Verschiebung des politischen Spektrums in den westlichen Ländern von eher Mitte-links nach Mitte-rechts, wobei es dann natürlich auch schnell zu den politischen Rändern gehen kann.

Dies könnte damit erklärt werden, dass die Menschen verunsichert sind durch die Vielzahl der Krisen, mit denen wir momentan konfrontiert sind. Und was macht der Mensch, wenn er verunsichert ist? Er klammert sich wie ein Ertrinkender an das, was er kennt, und muss dabei aufpassen, dass er den Retter nicht so umklammert, dass er ihn nicht mehr retten kann. Deshalb klammern sich die Menschen wieder stärker an die Gemeinschaften, die sie kennen.

Deshalb wächst auch das Potenzial für eine Abwehrhaltung gegenüber Fremden. Eigentlich wollen die Menschen auf Menschen, die aus anderen Ländern kommen, zugehen und dies als Bereicherung erfahren. Aber wenn es zu viel wird, klammern sie sich fest und es wächst die Neigung, sich stärker an die eigene Nation zu binden.

Unter den Ökonomen gibt es das sogenannte Rodrick-Trilemma. Dani Rodrick ist ein bekannter Ökonom, der gesagt hat, dass man nicht alle drei Dinge gleichzeitig haben kann: nationale Souveränität, Demokratie und offene Märkte. Wir wollen alle drei, wir wollen Demokratie und offene Weltmärkte, ohne Grenzen, freien Austausch und keine Zölle. Aber auch nationale Souveränität. Alle drei zusammen sind nicht möglich. Man kann nur zwei von den dreien haben, so lautet das Rodrick-Trilemma.

Im Fall von Afghanistan rate ich dazu, genauer hinzuschauen. Wenn man sieht, was in Afghanistan passiert, seit die Taliban wieder die Macht übernommen haben, und wenn man das Schicksal der Frauen dort betrachtet, kann man verstehen, welche Katastrophe es ist. Viele Menschen in Afghanistan hatten gehofft, dass sie dieses archaische Männerregime der Stammesfürsten loswerden können. Es ist übrigens dieselbe Frage im Iran.

Niklas Gronewold
Da wir noch etwas Zeit haben, noch eine weitere Frage: Würden Sie sagen, dass sich die Weltlage während ihrer Zeit als Politiker insgesamt gesehen eher verbessert oder verschlechtert hat?

Wolfgang Schäuble
Was ist besser? Was ist schlechter? Das ist eine sehr schwierige Frage. Man hört oft, dass es noch nie so schlimm war wie heute. Aber wenn man an die Geschichte von Vernon Walters in Deutschland 1945 denkt, die ich ihnen bereits erzählt habe, dann rückt das unsere heutige Situation wieder etwas in Perspektive.

Was die Lebensgrundlagen betrifft, fürchte ich, dass es schlimm ist und dass wir es nicht so leicht wieder rückgängig machen können. Aber: Optimismus ist Pflicht, Karl Popper.

Kai Beitelmann
Gregor Gysi hat ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Was Politiker nicht sagen, weil es um Mehrheiten und nicht um Wahrheiten geht.“ Wie würden Sie diesen Titel beziehungsweise diese Aussage bewerten?

Wolfgang Schäuble
Um eine Krise zu lösen, müssen bestimmte Dinge nicht öffentlich gemacht werden. Politiker sind in Demokratien zudem regelmäßig in Wahlen involviert und sie wollen alle gewählt werden, das ist Teil ihrer politischen Legitimation.

In meinem Verständnis von Repräsentation bin ich übrigens kein Anhänger der plebiszitären Demokratie, da sie nicht funktioniert. In einer repräsentativen Demokratie wählt man Menschen aus, die für eine bestimmte Zeit bestimmte Aufgaben übernehmen und im Rahmen ihrer Zuständigkeiten entscheiden sollen. Wenn sie erfolgreich sind, wird ihre Entscheidung von der Bevölkerung akzeptiert. Wenn sie jedoch nicht akzeptiert wird, kommt es entweder zu so viel Protest, dass die Entscheidung nicht umgesetzt werden kann, oder sie werden bei der nächsten Wahl nicht wiedergewählt. Daher ist es wichtig, dass die Politik auch versucht, die Legitimation ihrer Führung und die Akzeptanz ihrer Entscheidungen durch Wiederwahl bestätigt zu bekommen. Wenn sie sagen: "Mir ist es egal, ob ich wiedergewählt werde", kann das manchmal gut sein, aber im Grunde genommen ist es nicht das Prinzip.

Trotzdem sollte man in Wahlen ehrlich sein. Ich habe es meinen eigenen Parteifreunden immer gesagt, wenn sie mich um Rat fragen. Ich sage ihnen, sie sollen nicht so ängstlich sein. Die Wähler vertragen die Wahrheit gut, man muss sie ihnen nur richtig vermitteln. Demokratie ist eine Zumutung.

Neels Mennenga
Noch eine finale Frage zum Abschluss. Was war für Sie persönlich die prägendste Erfahrung, die sie in der Politik erlebt haben?

Wolfgang Schäuble
Also meine eindrucksvollste Zeit war die Zeit vom Fall der Mauer bis zur Wiedervereinigung. Vielleicht war die eindrucksvollste Erfahrung dann am Ende doch der Moment, als am 3. Oktober 1990 alles geschafft war. Der Einigungsvertrag wurde ratifiziert, die Wiedervereinigungsfeiern waren gut verlaufen, alles war gut. Ich war auf Wolke 7. Aber 9 Tage später lag ich auf der Intensivstation.

Diese Erfahrung, dass es sprichwörtlich von einer Sekunde auf die andere gehen kann, ist keine politische, sondern eine menschliche.

Und wenn Sie mich fragen, wer mich von den Menschen, die ich in dieser Zeit getroffen habe, am meisten beeindruckt hat, dann würde ich immer Nelson Mandela sagen. Ein Mann, der über 30 Jahre lang von den Apartheid-Machthabern auf einer Strafinsel gefangen gehalten wurde und der schließlich in einer unglaublichen Geschichte, ähnlich wie Mahatma Gandhi, den ich nicht persönlich kannte, aber der eine Generation früher in Indien aktiv war, das Regime in Südafrika beendete. Er schaffte dies mit Hilfe von de Klerk, einem vernünftigen Menschen im Regime, der auch sagt: Ja, wir müssen jetzt etwas ändern. Und dann sagt Mandela nicht: Jetzt ist Rache angesagt. Sondern er sagt: Jetzt wollen wir Versöhnung. Wir haben genug gelitten, wir wollen uns der Zukunft zuwenden. Er strahlte eine Lebensfreude aus. Wenn man mit Nelson Mandela zusammen war, war es pure Lebensfreude.

Es gibt viele Dinge, die ich erfahren und von Menschen lernen durfte. Deshalb bereue ich es nicht, Politiker geworden zu sein.

Neels Mennenga
Wir bedanken uns vielmals dafür, dass Sie sich Zeit genommen haben.

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