Interview mit
Professor Dr. Klaus Mainzer
am 22. November 2007 anlässlich der
Auricher Wissenschaftstage 2007
Wir: Wie sind Sie eigentlich zur Philosophie gekommen?
Ich mochte sowohl Mathe und Physik als auch Philosophie und Deutsch in der Schule. Nach dem Abitur 1966 war die Frage, ob ich eher Deutsch und Philosophie oder Mathe, Physik und Philosophie studieren sollte. Damals waren die Diplom-Studiengänge nicht so etabliert wie heute; man studierte Naturwissenschaften meistens auf Lehramt.
Eike: Lohnt es sich Philosophie auch im Zusammenhang mit Sprachen zu studieren oder nur bei Naturwissenschaften?
Natürlich lohnt es sich, auch bei einem künstlerisch orientierten Studiengang, eigentlich immer. Denn in der Antike und im Mittelalter gab es ein ganz anderes Verständnis von Philosophie als heute. Der Unterschied zur heutigen Auffassung ist, dass Philosophie damals das gesamte Wissen über die Welt (z. B. auch Logik und Physik) umfasste. Philosophen fragen insbesondere nach Prinzipien, Gründen und Ursachen des Wissens.
Dieser Teil der Philosophie wurde nach Aristoteles Metaphysik Metaphysik genannt, die heute nur noch als etwas Abgehobenes und von der Welt weit Entferntes gilt. So sieht man, wie sich die Dinge unterschiedlich entwickeln, wenn sie im Laufe der Zeit erweitert werden.
Eike: Von der modernen Philosophie wird die Metaphysik kritisiert, oder?
Die Metaphysik wurde ursprünglich anders definiert. Das Bild, das wir heute haben, ist nicht das von den Anfängen. Ich sympathisiere stark mit der ursprünglichen Philosophie, da sie noch die gesamte Wissenschaft im Blick hatte und nicht nur eine kleine Teildisziplin in irgendeiner Fakultät. Philosophie ist für mich das Fundamentale überhaupt. Ich habe dann Mathematik und Philosophie studiert. (Damit beginnt auch im Abendland die Entwicklung der Wissenschaft.) Aber selbst in einem anderen Studiengang wäre ich immer wieder zur Philosophie zurückgekommen. Bei meiner letzten Geburtstagsfeier, an der auch „Nicht-Philosophen“, zum Beispiel Ärzte und Biologen, teilnahmen, sagte ich abschließend: „Wir sind alle Philosophen. Wenn wir nur tief genug in unseren jeweiligen Disziplinen bohren, sei es nun Literatur oder Mathematik, werden wir auf unsere gemeinsamen Gründe des Wissens stoßen und das ist dann die Philosophie.“
Frau Niemeyer: Aus der Theorie Wolf Singers könnte man ableiten, dass es keinen wirklich freien Willen gibt. Glauben Sie das auch?
Das Libet-Experiment hat nachgewiesen, dass unser Denken, Handeln und Entscheiden von Bereitschaftspotentialen im Gehirn abhängt: Diese neuronalen Erregungen legen z. B. Fingerbewegungen Bruchteile von Sekunden fest, bevor sie uns bewusst und ausgeführt werden. Determiniert heißt aber für mich, dass eine Wirkung eindeutig durch eine Ursache bestimmt wurde. Sind wir aber tatsächlich wie Marionetten durch unbewusste Bereitschaftspotentiale determiniert? Das Libet-Experiment zeigt nur, dass Fühlen, Spüren und Wahrnehmen mit neuronalen Bereitschaftspotentialen in unserem Gehirn korreliert sind. Solche Aussagen hängen immer von den wissenschaftlichen Methoden ab. Heutzutage werden die bildgebenden Verfahren der Computertechnik benutzt, um Bereitschaftspotentiale als erregte Regionen im Computerbild des Gehirns sichtbar zu machen. Früher konnte man nur durch das Beobachten der Anatomie des Menschen Hinweise auf Ursachen bestimmter Ereignisse im Gehirn gewinnen. Heute ist die Gehirnforschung mit der Psychologie über die bildgebenden Computerverfahren korreliert: Der Gehirnforscher kann im Computerbild sehen, dass etwas im Gehirn passiert ist; aber der Psychologe beschreibt das dazu gehörende Verhalten des Menschen.
Schon früher war bekannt, dass der Mensch bestimmte Bereitschaftspotentiale (z. B. Wut und Aggression) aufbaut etwas zu tun (z. B. zu schlagen), bevor das Bewusstsein das überhaupt realisiert. Aber hätten wir keine Willensfreiheit, müssten diese Bereitschaftspotentiale ausgelebt werden, weil wir sie nicht steuern könnten. Das tun wir aber in der Regel nicht, weil uns unser moralisches und ethisches Wissen („Gewissen“) bewusst wird und daran hindert. Dieses Wissen ist im Neocortex gespeichert, also ebenfalls mit Gehirnarealen korreliert. In einer langen Kultur- und Evolutionsgeschichte wurde dieses moralische Wissen der Menschheit erworben und in Regeln festgelegt. (Denken Sie daran, wie lange es dauerte, bis die 10 Gebote, die Bergpredigt und schließlich die Menschenrechte in der französischen Revolution verkündet wurden.) In diesen moralischen und ethischen Regeln kommt unsere Forderung der Willensfreiheit zum Ausdruck. Die Willensfreiheit zeigt sich also in der Möglichkeit bewusster Korrektur nach dem Aufbau von unbewussten Bereitschaftspotentialen. Keinesfalls sind wir aber in unserem Verhalten durch unsere spontanen Bereitschaftspotentiale determiniert, d. h. eindeutig festgelegt ohne Möglichkeit nachträglicher bewusster Korrektur. Gehirnforschern, die das behaupten, stimme ich nicht zu.
Wir messen das Verhalten eines Menschen am idealen Maßstab uneingeschränkter Willensfreiheit, von dem wir alle mehr oder weniger stark abweichen. Gemessen an der Abweichung von der idealen Norm findet auch vor Gericht eine Verurteilung statt, wobei der Richter schon heute einen Unterschied im Urteil macht, wenn eine Tat z. B. im Alkoholrausch, Affekt oder anderen Bewusstseinseinschränkungen ausgeführt wurde. Fest steht aber: Wir brauchen Normen zur Steuerung und Korrektur unseres sozialen Zusammenlebens. In diesem Sinn ist Willensfreiheit ein ideales moralisches Postulat (vgl. Kants kategorischer Imperativ) und kein naturwissenschaftliches Faktum der Gehirnforschung.
Frau Niemeyer: Also ist es egal, dass unser Bewusstsein um 3/100 Sekunden hinterherhinkt.
Ja, das war früher schon bekannt: Es ist eben klüger, erst die Folgen einer Tat zu bedenken, als unseren Impulsen und Reflexen spontan und blind zu folgen. Heute verstehen wir zusätzlich die damit korrelierten neurobiologischen Abläufe im Gehirn.
Eike: Gibt es Ihrer Meinung nach eine übergeordnete Vernunft, etwas nicht Materielles?
Das ist eine zentrale Frage. Nach meiner Auffassung können Leib und Seele nicht getrennt werden. Darin unterscheide ich mich von Descartes, der eine strikte Trennung von res cogitans und res extensa vertreten hat. Er war der Meinung, dass Immaterielles (res cogitans, also nach Descartes „Geist“ bzw. „Seele“) mit Materiellem (res extensa, also nach Descartes die ausgedehnte Körperwelt) wechselwirken kann. Man fragt sich allerdings, wie das funktionieren soll. Jedenfalls fand damals die erste Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften statt. Aristoteles sah demgegenüber alle Wissenschaften als eine Einheit, deren Trennung nur künstlich gemacht würde. So sei auch der menschliche Körper ein sich selbst organisierender, komplexer Organismus, und es gäbe nichts Losgelöstes von ihm. Die Trennung von Körper und Seele wird vor allem in Europa durch die christlich-jüdische Tradition gefördert.
Nach Aristoteles gibt es graduelle Unterschiede der Beseelung, wie und zu welchem Zweck und Ziel sich Körper und Organismen organisieren können: Ein Stein hat sehr wenige Freiheitsgrade der Veränderung, während diese bei Pflanzen und Tieren schon sehr ausgeprägt sind. Heute erklären wir diese Zunahme von Organisationsmöglichkeiten durch genetische und neuronale Selbstorganisation bis zur bewussten Handlungsplanung von Menschen mit Gehirnen.
Sowohl Singer als auch ich halten nichts von einer Trennung von Körper und Geist, wir sind also Monisten, während Descartes zu den Dualisten gehörte, wohl auch, um bei seinen Forschungen nicht mit der Kirche anzuecken, denn durch diese Trennung konnte Descartes sagen, er wäre als Naturwissenschaftler für die Materie und die Kirche für den Geist zuständig.
Frau Niemeyer: Und wo sitzt Ihrer Meinung nach die Seele?
Das ist die falsche Frage. Erst müssen wir uns fragen: Was ist die Seele? Der Begriff ist durch die abendländische Kulturgeschichte überladen. Die anglo-amerikanische Philosophie ist nüchterner als der deutsche Sprachgebrauch. Sie nennen es „philosophy of mind“ (im Deutschen sehr dramatisch „Philosophie des Geistes“), wobei „mind“ eigentlich nur mental bzw. mentale Funktionen des Gehirns bedeutet. Allerdings vertrete ich keine Identitätsphilosophie, das heißt, ich glaube nicht, dass man neuronale Aktivitäten mit mentalen Funktionen identifizieren kann. Ein Neuron (d. h. eine Nervenzelle des Gehirns) kann nicht denken und fühlen. Neuronen können nur „feuern“ (erregt sein) oder „nicht feuern“ (nicht erregt sein). Aber eine Gruppe gleichzeitig feuernder (zusammen erregter) Neuronen in einem bestimmten Areal des Gehirns kann einen Gehirnzustand erzeugen, der mit Denken, Wahrnehmen oder Bewusstsein korreliert ist: Der Gehirnforscher beobachtet im Computerbild die Gruppe feuernder Neuronen im Gehirn, der Psychologe den damit korrelierten Zustand bzw. das Verhalten eines Menschen.
Ich bin durchaus vorsichtig, wenn ich sage, dass die heutigen Computer-Architekturen im weitesten Sinne durchaus Ähnlichkeiten mit manchen Aspekten des Gehirns aufweisen: An die Stelle von Neuronen im Gehirn treten in einem Computer viele Schaltregister in alternativen Spannungszuständen, die wir durch die Bits 0 und 1 bezeichnen. Diese Bitfolgen auf der Festplatte eines Computers sind mit Programmen korreliert, die Texte, Bilder, Filme und Musik auf einem Bildschirm und im Lautsprecher erzeugen. Auch die Software der Computerprogramme kann nicht mit der Hardware der physikalischen Register als Computerbausteinen identifiziert werden.
Tim: Wird es jemals möglich sein, dass Computer so denken und handeln wie Menschen?
Es gibt kein prinzipielles Argument, dieses auszuschließen, aber das Datum kann ich noch nicht prognostizieren. Die Japaner planen bis zu den 20er Jahren den ersten humanoiden Roboter, der in allen körperlichen Fähigkeiten dem Menschen gleichen soll.
Lina: Kann ein Computer überhaupt zufällig handeln?
Quantencomputer im Gegensatz zu klassischen Computern können zufällig reagieren, da Quantenereignisse nicht determiniert sind. Evolutionäre Algorithmen simulieren die Evolution mit Selektion und Mutation, wobei Mutationen durch Zufallsgeneratoren realisiert werden. Neuronale Netze mit stochastischen Lernalgorithmen können zufällige Gehirndynamik simulieren.
Tim: Wenn ein Computer, der so wie ein Mensch ist, hergestellt werden kann, ist dann auch die Seele nichts Immaterielles?
Schon in der aristotelischen Philosophie wurde, wie ich eben betont habe, die Meinung vertreten, dass die Seele nichts Losgelöstes vom Körper ist. Wie der menschliche Organismus eine Eigendynamik hat, werden auch Robotersysteme irgendwann eine Eigendynamik entwickeln können, wenn sich ihre Fähigkeiten denen des Menschen nähern.
Ein Filmtipp, den ich geben kann, ist „Artificial Intelligence“ von Steven Spielberg. Da kommen typische Szenarien vor, wie zum Beispiel, dass eine Maschine Empathie entwickelt.
Keno: Wenn Maschinen immer menschlicher werden, begehen sie dann auch Fehler?
Diese Systeme sind selbst organisierend, d. h., sie können auch Fehler begehen.
Ich arbeite an einem Projekt in Schloss Dagstuhl, dem deutschen Informatikzentrum, mit. Ich bin dort als Philosoph unter lauter technischen Informatikern und Ingenieuren. Wir arbeiten an der Frage „Organic Computing,“ und da geht’s um sich selbst organisierende Systeme wie z. B. „kognitive Automobile“, die selbstständig ihre Umgebung erkunden oder ihre Elektronik selber korrigieren und einstellen. Das Problem der Ingenieure ist, dass solche Systeme Eigendynamik entwickeln können und damit nicht kontrollierbar sind.
Eike: Kann ein Computer lebendig sein?
Es hat eine heiße Diskussion über die Frage, was überhaupt lebendig ist, gegeben. Biologen haben früher geglaubt, dass es zusätzlich zu den chemischen und physikalischen Kräften noch eigene Lebenskräfte gibt. Aber nach heutigem Wissen stimmt das nicht. Einfache molekulare und zelluläre Bausteine können hochkomplexe Zustände erzeugen, die wir in der Tradition mit „Geist“ und „Leben“ bezeichnet haben. Sie können viele Eigenschaften, die das Leben auszeichnet, wie zum Beispiel die Selbst-Reproduktion ausüben.
Die schwedische Königin Christine, die von Descartes in Philosophie und Naturwissenschaften unterrichtet wurde, behauptete einmal, dass Maschinen sich selbst nie reproduzieren könnten. Das wird aber mathematisch von dem amerikanischen Mathematiker und Computerpionier John von Neumann widerlegt, denn er legte 1959 den Beweis vor, dass eine universelle Turingmaschine sich selber reproduzieren kann.
Heute gibt es längst einfachere zelluläre Automaten, die sich selbst reproduzieren. Das lässt sich auf jedem PC simulieren. Damit ist ein wesentlicher Aspekt der Evolution technisch realisiert.
Lina: Sie haben gesagt, dass die Ingenieure Probleme haben, wenn Maschinen zu zufällig oder zu lebendig agieren. Warum erfindet man solche dann? Nur damit man sagen kann, dass man es kann?
Das ist eine vollkommen berechtigte Frage, denn wichtig ist nicht nur, was möglich ist, sondern auch, was ich tun soll und darf. Kant hat bereits die Fragen unterschieden: Was kann ich wissen? Mit dieser Frage beschäftigen sich Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie. Was soll ich tun? Soll ich das tun, was ich tun kann? Das ist eine andere Frage der Ethik, also einer weiteren Disziplin der Philosophie. Es ist daher berechtigt zu fragen: Soll ich solche Maschinen entwickeln? Wir können heute sehr vieles, sollen wir das alles tun? Da könnte man Einwände erheben.
Sollte man nicht nur besser, sondern auch vorsichtiger werden?
Keno: Noch mal zum Leib-Seele Problem. Sie sagten, dass die Auftrennung bei Aristoteles noch nicht vorhanden war. Wie kam es zu dieser?
Die griechische Tradition, wie auch die chinesische, z. B. der Konfuzianismus, kannten ursprünglich keinen jüdisch-christlichen Einfluss. Mehrere Aspekte haben wir durch diese religiöse Tradition in das abendländische Weltbild und damit auch in unsere philosophische Ansicht aufgenommen – wie zum Beispiel die Jenseitsvorstellung oder den unabhängig vom Körper agierenden Geist. Wenn man aber in andere Kulturkreise der Erde kommt, bemerkt man auf einmal, dass die dortigen Vorstellungen in dieser Hinsicht ganz anders sind. Das ist ein eigenes und wichtiges Thema des Kulturvergleichs.
Frau Niemeyer: Ich war ziemlich verblüfft, dass Sie das Zufallsrauschen mit dem Nirwana verglichen haben und dass Sie das überhaupt interessiert, weil sie sich ja sonst größtenteils mit der klassischen Philosophie beschäftigt haben. Wie kamen Sie dazu?
In meinem Buch „Der kreative Zufall. Wie das Neue in die Welt kommt“ wollte ich fragen: Was ist der Stand der Wissenschaft? Was ist Vermutung? Und wie verträglich ist dieser Stand der Wissenschaft mit unseren üblichen weltanschaulichen und religiösen Einstellungen und Positionen – nicht nur in Europa, sondern weltweit.
Der britische Biologe Richard Dawkins hat jetzt ein Buch verfasst, in dem er vehement gegen den Theismus wettert. Wenn das ein Unbedarfter liest, denkt er: „Aha, die moderne Naturwissenschaft widerlegt also eindeutig jede Art von Theismus.“ Das ist das Gegenteil von dem auf amerikanischer Seite betriebenen Kreationismus. Aber beide Positionen sind insofern vergleichbar, als es sich um Weltanschauung handelt. Weder der Theismus noch der Atheismus lassen sich zwingend aus der Naturwissenschaft ableiten. Die Wissenschaft betreibt insofern einen methodischen Agnostizismus. Ein Wissenschaftler ist darüber hinaus aber auch noch Mensch und Staatsbürger, der politische und religiöse Positionen aus unterschiedlichen Gründen vertreten kann und sollte. Wissenschaft ist nicht alles.
Tim: Wo bleibt Gott? Wo bleibt die Religion in einer Welt, die durch den Zufall definiert wird und in der die Seele und der Körper eins sind?
Wie es der Zufall will, habe zu dieser Frage vorgestern Abend einen Vortrag über mein Buch („Der kreative Zufall“) in der Katholischen Akademie in Bayern gehalten. Es hat mich zunächst überrascht, aber ich dachte „Aha, man setzt sich damit auseinander“. Also, dort kam dann auch die Frage auf, wie machen Sie das mit der Religion.
Da stand ein älterer Ingenieur auf und meinte, er wüsste doch, dass man das Gerät, das man hergestellt hat, auch begleiten müsste, um sicherzustellen, dass alles funktioniert. Er argumentierte mit einem alten Bild, das man schon zu Zeiten von Leibniz und Newton benutzte: Es gäbe einen „Mechaniker-Gott“, der die Welt nach einem festen Plan hergestellt hat. Und der muss sich dann auch um die Welt kümmern.
Womit der Ingenieur anscheinend Probleme hatte, war das philosophische Bild der Evolution, das danach kam und von Darwin bestimmt wurde, indem der Zufall durch Mutationen mitwirkte. Die Religion ist damit überhaupt nicht ausgeschaltet oder widerlegt.
Wir müssen uns als religiöse Menschen nur zu einem anderen Gottesbild bequemen. Es kann nicht mehr der Gott sein, der an einem imaginären Schaltpult sitzt und alles nach einem vorher festgelegten Plan lenkt.
Tim: Könnte man nicht sagen, dass Gott Zufall ist?
Eike: Gab es nicht mal Religionen, die eine Inkarnation des Zufalls angebetet haben?
Ja, natürlich. Es gibt einen schönen Spruch des französischen Schriftstellers Anatol France: „Zufall ist überall da, wo Gott den Scheck nicht selber unterschreiben wollte“. Wir fragen uns also, was ist Zufall? Und wir können nur wissenschaftlich feststellen, es gibt keine wissenschaftlichen Gründe an diesen Stellen.
Wie man in der Quantenphysik sieht, würde die Annahme von physikalischer Vorbestimmung zu Widersprüchen führen. Das ist tatsächlich in physikalischer Hinsicht der echte Zufall.
Physikalisch gesehen wissen wir dann genau … nichts. Wir wissen nur so viel, wie unsere Methoden es erlauben.
Tim: Kann es nicht sein, dass die Mathematik, die hinter dem Zufall steht, alles übersteigt, was wir uns vorstellen können?
Damit sympathisiere ich sehr. Die Mathematik spielt bei mir tatsächlich eine große Rolle, und ich habe in der Geschichte der Wissenschaft beobachtet, dass Menschen immer Antworten gegeben haben, die stark von ihren Methoden abhingen, auch in mathematischer Hinsicht.
Zum Beispiel konnte Aristoteles sich das, was wir heute schlicht Beschleunigung nennen, also eine nicht konstante Bewegung, nicht vorstellen und nicht glauben, dass man diese überhaupt mathematisch beschreiben könne. Er kannte nur euklidische Geometrie und die Kinematik konstanter Bewegungen. Heutzutage ist die Beschleunigung Allgemeinwissen. Die größten Gelehrten haben daran gezweifelt, dass die Beschreibung der Beschleunigung mathematisch jemals möglich sein wird. (Erst mit Newtons und Leibnizens Differential- und Integralrechnung konnte man die Geschwindigkeitsänderung der Beschleunigung berechnen.)
Also in diesem Sinne könnte es natürlich sein, dass die mathematischen Methoden erweitert werden. Daher bin ich auch vorsichtig in meinen Äußerungen. Ich weiß ja nicht, was morgen sein wird. Genau deswegen verstehe ich Dawkins in seinem Buch nicht.
Lina: Aber würden Sie dann sagen, dass es den Zufall gar nicht gibt, sondern dass wir bis jetzt nur noch nicht die Methodik dahinter begriffen haben?
Es gibt, das wissen wir heute, eine Graduierung von Zufällen. Es gibt zum Beispiel den absoluten Zufall, das ist, wenn alle Zusammenhänge zerfallen oder wir sie nicht mehr erkennen.
Alles ist wild und zufällig. Schließlich bauen sich schrittweise Korrelationen und Zusammenhänge auf, bis alles total determiniert und reguliert ist. Und zwischen absolutem Zufall und totaler Determination ist das Leben. Die Wirklichkeit ist irgendwo zwischen den beiden Extremen.
Eike: Wie kann man das belegen, dass die Wahrheit dazwischen liegt?
Das zeigt sich in den Signalen und Reaktionen von konkreten Systemen, die man jeweils untersucht. Man erhält dann Skalierung von Messergebnissen, die mehr oder weniger zufällig sind bzw. Regularitäten aufweisen. Signalrauschen, in dem nicht die geringsten Muster und Zusammenhänge erkennbar sind („weißes Rauschen“), sind Beispiele des absoluten Zufalls. Aber den totalen Determinismus, den wir in der Schule beigebracht bekommen haben, den gibt es nicht. Es ist ein Fantasiegebilde. Es ist nur ein vereinfachtes Modell des mathematischen Verstandes. Aristoteles war mit seiner Beschreibung der Realität viel näher dran als Galilei.
Aristoteles hat die Welt gesehen, wie sie ist, während Galilei sich einen Fall zurechtgezimmert hat, den es so in der Realität nicht geben kann, den freien Fall unter perfekten Bedingungen ohne Reibung und Störung nämlich.
Diese deterministische Welt wäre eine Idealwelt. Überall gibt es aber tatsächlich Entropie.
Eike: Wie erhält dann der Determinismus seine Legitimation?
Also, der Determinismus hat natürlich auch eine hervorragend didaktische Funktion, denn er ist sehr einfach. Daher beginnt die neuzeitliche Physik mit der Galileischen Mechanik determinierter Körperbewegungen.
Die alten Chinesen fangen ganz woanders an, bei ihnen sind ganz andere Dinge wichtig, zum Beispiel Medien wie Flüssigkeiten, Luft und magnetische Felder. Nach ihrer Meinung ist die Welt durch diese Medien beseelt. Für sie sind die Spannungen dieser Medien überall. Das untersuchten die Chinesen qualitativ, damit fingen sie an. In der messenden und quantitativen Physik des Abendlandes hätten wir ganz große Probleme gehabt, hätten wir damit angefangen. Die neuzeitliche Physik mit ihren mathematischen Meßmethoden wäre nicht ins Laufen gekommen, da die mathematischen Methoden zur Beschreibung von z. B. magnetischen Feldern noch nicht vorlagen. Tatsächlich beschränkte sich die alte Physik der Chinesen auf qualitative Beschreibungen und Einsichten, die aber höchst faszinierend und originell sind.
Im Abendland beginnt man vereinfachend mit der atomistischen Vorstellung, die uns zur Mechanik angeregt hat, und wir sind dann in ganz kleinen Schritten schließlich auch zu den Fluiden und elektromagnetischen Feldern gelangt.
Deterministische Modelle versteht man heute als praktische Approximation, um Berechnungen zu erleichtern und nicht als Aussagen über die Wirklichkeit an sich.
Eike: Ist es dann nicht vielleicht so, dass die Welt deterministisch festgelegt ist, dass aber der Zufall so starken Einfluss nimmt, dass wir nicht genau vorhersagen können, was passiert?
Die Welt erweist sich in unseren heutigen Messungen und Beobachtungen mehr oder weniger stochastisch, das heißt also, durch Wahrscheinlichkeiten beeinflusst, die auf Störungen und Rauschen zurückzuführen sind. Deterministische Approximationen, mit denen wir in praktischen Anwendungen gut zurechtkommen, funktionieren zum Beispiel in der Mechanik (z. B. Automechanik). In verschiedenen anderen Bereichen stellt man aber fest, dass die Wirklichkeit mit erheblichem Signalrauschen, Störungen und Entropie verbunden ist. Je näher wir an die Wirklichkeit rankommen, desto mehr nehmen Streuungsprozesse und Rauschen zu. Der Determinismus ist also eine ideale Beschreibung, mit der man in manchen Fällen gut zurechtkommt, um Modelle für bestimmte Zwecke zu machen, aber es ist nicht die Wirklichkeit. Das ist dem Physiker häufig nicht bewusst, dass wir eigentlich nur Modelle in der Wissenschaft haben, die für bestimmte Bereiche gut geeignet sind. Aber in anderen wissenschaftlichen Bereichen ist das nicht so. Wissenschaftliche Erkenntnis hängt also von unseren Methoden und Modellen ab, die wir anwenden. Diese methodischen Voraussetzungen untersucht die moderne Wissenschaftstheorie. Es ist eine große Herausforderung der heutigen Philosophie, diese methodischen Voraussetzungen unseres Wissens bewusst zu machen. Leider ist das heute in der Öffentlichkeit wenig klar. Viele Menschen glauben an die bunten Bilder der Wissenschaftsmagazine, in Film und Fernsehen und den Thesen von Wissenschaftlern wie früher religiösen Glaubenssätzen. Im Unterschied zu religiösen Überzeugungen sind aber wissenschaftliche Aussagen immer „Wenn-Dann“-Aussagen: Wenn bestimmte Daten, Methoden oder Modelle gelten, dann folgen diese oder jene Konsequenzen. Als Philosoph sollte man also kritisch sein und fragen, „Moment mal, unter welchen Voraussetzungen gelten Eure Thesen, was wisst Ihr denn genau?“
Frau Niemeyer: Welchem Philosophen können Sie sich am ehesten annähern?
Sie meinen von den klassischen Philosophen. Also, bei dem Thema Zufall würde ich da Schwierigkeiten haben, die klassische Philosophie hat sich für meinen Geschmack zu wenig mit diesem Thema auseinander gesetzt. Aber einer meiner Lieblingsphilosophen generell ist David Hume. Er ist klar, einfach und dennoch grundlegend: Schüler können ihn lesen, ohne philosophisches Vorwissen. Kant dagegen ist viel schwieriger.
Tim: Ist es die Aufgabe eines Philosophen, alles kritisch zu hinterfragen?
Absolut. Das ist Philosophie seit Sokrates. Das ist die ganz große Philosophie. Und vor allem empfehle ich Hume, weil Sie ihn auf der Schule lesen können; außerdem finden sich bei David Hume die ersten großen Ideen zum Thema Zufall. Zu einer Zeit, in der die Wahrscheinlichkeitstheorie erst im Kommen war. David Hume stellte den deterministischen Glauben, der zu der Zeit stark verbreitet war, in Frage. Für die damalige Zeit war das nahezu Gotteslästerung.
Tim: Wahrscheinlich war David Hume zu früh.
Zu früh, ja. Aber das ist natürlich Genialität und sehr mutig. Der Mann hat ja auch darunter gelitten. Wenn er irgendetwas nach dem Mainstream erzählt hätte, wäre er wahrscheinlich etablierter Professor an irgendeiner Uni geworden. Er hat aber zu seinen Worten gestanden, auch das ist Philosophie. So blieb er Privatgelehrter. Wissenschaftler glaubten damals alle nach Leibniz an die mechanisch funktionierende Welt, sie sahen hinter allem Zahnräder, den Rationalismus. Hume fragte, wo diese Kausalität denn in der Natur ist. Er fragt „ Hat das irgendjemand gesehen?“ „Ich nicht!“ „Sind die Zahnräder in meinem Kopf?“ „Nein, da sind nur lauter Empfindungen und Vorstellungen.“
Frau Niemeyer: Zum Abschluss wüssten wir gerne noch, was Sie als den eindrucksvollsten Zufall Ihres Lebens bezeichnen würden.
Meine Frau und meine Kinder sind die schönsten Zufälle in meinem Leben, denn, wie Sie wissen, jede Frau trägt eine Menge Eizellen mit sich herum und jeder Mann eine Menge Spermien, also war es in meinen Augen ein glücklicher Zufall, wie es gekommen ist.
[Das Interview fand vor dem Vortrag von Prof. Mainzer während eines gemeinsamen Abendessens statt; die Interviewer sind Teilnehmer der Philosophie-AG am Ulricianum.]